Entscheidungsstichwort (Thema)

Einreichung der Vollmacht erfordert grundsätzlich Abgabe zu den Prozeßakten

 

Leitsatz (NV)

1. Eine Vollmacht ist eingereicht i. S. des § 62 Abs. 3 FGO, § 80 Abs. 1 ZPO, wenn sie zu den zu der jeweiligen Streitsache gehörenden Akten, also zu den Prozeßakten abgegeben ist. Von der Vorlage der Vollmacht kann deshalb grundsätzlich nicht abgesehen werden, weil zu einem anderen Verfahren bereits eine Vollmacht eingereicht worden ist.

2. Eine Frist zur Vorlage der Vollmacht wird mit ausschließender Wirkung nur gesetzt, wenn eine entsprechende Anordnung durch den zuständigen Richter erlassen wird. Das ist der Vorsitzende oder der von ihm benannte beisitzende Richter des Gerichts eines FG als Spruchkörper, der auf Grund der vom Präsidium des Gerichts vorgenommenen Geschäftsverteilung berufen ist, die richterlichen Aufgaben in einer bestimmten Sache wahrzunehmen.

 

Normenkette

FGO § 5 Abs. 2 S. 1, Abs. 3 S. 1, § 62 Abs. 3, § 155; VGFGEntlG Art. 3 § 1; ZPO § 80 Abs. 1 S. 2; GVG § 21e Abs. 1 S. 1, § 21g

 

Tatbestand

Mit Entscheidung vom 26. März 1984 hatte die OFD . . . die Beschwerde des Klägers und Revisionsklägers (Kläger) gegen die den Erlaß von Säumniszuschlägen zur Lohnsteuer . . ., zur Einkommensteuer . . . sowie zur Umsatzsteuer . . . ablehnenden Verfügung des Beklagten und Revisionsbeklagten (Finanzamt - FA -) vom . . . als unbegründet zurückgewiesen. Am 30. April 1984 erhob der Kläger durch seinen Prozeßbevollmächtigten ,,in der Erlaßsache wegen Säumniszuschlägen zur Lohn-, Einkommen- und Umsatzsteuer Klage gegen die Beschwerdeentscheidung der OFD . . . vom 26. 3. 1984". Klageantrag, Klagebegründung und Prozeßvollmacht sollten innerhalb von vier Wochen nachgereicht werden.

Mit Verfügung des Berichterstatters des A-Senats des Finanzgerichts (FG) vom 24. Mai 1984 wurde der Prozeßbevollmächtigte aufgefordert, bis 1. Juli 1984 einen bestimmten Antrag, die Vollmacht sowie die Klagebegründung nachzureichen. Nachdem der Prozeßbevollmächtigte dem nicht nachgekommen war, wurde ihm durch Verfügung des Berichterstatters des A-Senats des FG vom 13. Juli 1984 - u. a. - für die Einreichung der Vollmacht gemäß Art. 3 § 1 des Gesetzes zur Entlastung der Gerichte in der Verwaltungs- und Finanzgerichtsbarkeit (VGFGEntlG) eine Frist mit ausschließender Wirkung bis 1. August 1984 gesetzt. Die Vollmacht ging am 13. August 1984 beim Gericht ein.

Am 6. September 1984 stellte der Berichterstatter des A-Senats des FG - nach Eingang der Steuer- und Rechtsbehelfsakten und Rückfrage beim Prozeßbevollmächtigten des Klägers - fest, daß mit der Klage der Erlaß von Säumniszuschlägen zur Umsatzsteuer in Höhe von . . . DM, zur Einkommensteuer in Höhe von . . . DM und zur Lohnsteuer in Höhe von . . . DM erstrebt werde. Durch Beschluß vom 7. September 1984 gab der A-Senat des FG die Sache an den B-Senat mit der Begründung ab, daß dieser zuständig sei, weil der begehrte Erlaß der Säumniszuschläge zur Umsatzsteuer den höchsten Streitwert aufweise; die Sache erhielt beim B-Senat das Aktenzeichen B . . ./84.

Nach Aufforderung durch den Berichterstatter des B-Senats erklärten die Prozeßbevollmächtigten, es sei bereits im Februar 1983 zum Aktenzeichen B . . ./83 wegen Säumniszuschlägen zur Umsatzsteuer . . . eine Prozeßvollmacht eingereicht worden, die sich auf die Führung von ,,Rechtsstreitigkeiten in allen Steuersachen" erstrecke. Im übrigen sei die Frist gemäß Art. 3 § 1 VGFGEntlG nicht von dem gesetzlichen Richter gesetzt worden, weil dieser dem für die Entscheidung zuständigen Senat angehören müsse; für die Entscheidung zuständig sei aber nicht der A- sondern der B-Senat des FG.

Durch Urteil vom 14. März 1985 wies der B-Senat des FG die Klage ab; sie sei unzulässig, da die Prozeßvollmacht erst nach Ablauf der gemäß Art. 3 § 1 VGFGEntlG gesetzten Frist bei Gericht eingegangen sei. Unerheblich sei, daß der Kläger in einem anderen Rechtsstreit zum Aktenzeichen B . . ./83 bereits im Februar 1983 eine Prozeßvollmacht eingereicht habe, denn die in einem Verfahren eingereichte Vollmacht beziehe sich grundsätzlich nur auf das betreffende Verfahren. Etwas anderes gelte nur bei einem entsprechenden Hinweis des Prozeßbevollmächtigten oder des Klägers; ein derartiger Hinweis sei bis zum Ablauf der Ausschlußfrist für die Vorlage der Vollmacht nicht erfolgt. Die Frist sei auch nicht von einem unzuständigen Richter gesetzt worden. Nach dem Geschäftsverteilungsplan richte sich in Erlaßsachen, in denen die Beschwerdeentscheidung mehrere Steuerarten betreffe, die Zuständigkeit nach der Steuer mit dem höchsten Streitwert. Die Steuerart mit dem höchsten Streitwert sei im vorliegenden Fall die Umsatzsteuer. Für Klagen gegen das FA X wegen Umsatzsteuer sei nach dem im Jahre 1984 geltenden Geschäftsverteilungsplan der A-Senat zuständig gewesen, soweit nicht eine Zuständigkeit des B-Senats festgestanden habe. Die Zuständigkeit des B-Senats habe jedoch erst in dem Zeitpunkt festgestanden, als nach Eingang der Steuerakten bei Gericht am 31. August 1984 habe festgestellt werden können, daß die Steuerart mit dem höchsten Streitwert im vorliegenden Fall die Umsatzsteuer gewesen sei. Im Zeitpunkt des Setzens der Ausschlußfrist sei damit der A-Senat für den Rechtsstreit zuständig gewesen.

Mit der Revision rügt der Kläger Verletzung von § 62 Abs. 3 der Finanzgerichtsordnung (FGO) und Art 3 § 1 VGFGEntlG sowie der Vorschriften über den gesetzlichen Richter und beantragt, das Urteil des FG vom 14. März 1985 aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung an das FG zurückzuverweisen.

Das FA beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist begründet. Das angefochtene Urteil war aufzuheben und die Sache an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 FGO).

1. Die Revision ist nicht schon deshalb begründet, weil der Kläger zu einem anderen Rechtsstreit bereits vor Klageerhebung in der vorliegenden Streitsache eine Prozeßvollmacht eingereicht hat, auch wenn sie sachlich den Gegenstand des vorliegenden Verfahrens umfaßt. Die zu dem anderen Verfahren eingereichte Vollmacht ist nicht, wie es § 155 FGO i. V. m. § 80 Abs. 1 der Zivilprozeßordnung (ZPO) erfordert, zu den Gerichtsakten abgegeben; sie hat sich lediglich bei dem Gericht befunden. Gerichtsakten im Sinne der genannten Vorschrift sind die zur jeweiligen Streitsache gehörenden Akten, also die Prozeßakten (vgl. Urteil des Bundesgerichtshofs - BGH - vom 27. Mai 1986 IX ZR 152/85, Neue Juristische Wochenschrift Rechtsreport - NJW-RR - 1986, 1252; Urteil des Hessischen FG vom 27. November 1981 I 29-30/81, Entscheidungen der Finanzgerichte - EFG - 1983, 33; Baumbach / Lauterbach / Albers / Hartmann, Zivilprozeßordnung, 48. Aufl., § 80 Bem. 2 B b), nicht im Gericht schlechthin vorhandene Akten. Offengelassen werden kann, ob es ausreichend ist, wie das FG meint, auf eine zu einem anderen Verfahren eingereichte Vollmacht Bezug zu nehmen; jedenfalls könnte dies nur dann genügen, wenn die Vollmacht sofort beschafft werden kann (vgl. Baumbach / Lauterbach / Albers / Hartmann, a. a. O.).

2. Das FG durfte jedoch die Klage nicht durch Prozeßurteil wegen Fehlens der Prozeßvollmacht als unzulässig abweisen, weil der Kläger am 13. August 1984 eine Prozeßvollmacht wirksam eingereicht hat (vgl. Urteile des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 1. April 1971 IV R 208/69, BFHE 102, 442, BStBl II 1971, 689, und vom 4. Juli 1984 II R 188/82, BFHE 142, 3, BStBl II 1984, 831). Entgegen der Ansicht des FG war der Kläger mit dem Nachweis der Prozeßvollmacht durch die Verfügung des Berichterstatters des A-Senats des FG vom 13. Juli 1984 nicht nach Art. 3 § 1 VGFGEntlG wirksam ausgeschlossen worden.

a) Eine Frist zur Vorlage der Vollmacht wird mit anschließender Wirkung nur gesetzt, wenn eine entsprechende Anordnung vom zuständigen Richter erlassen wird. Art. 3 § 1 VGFGEntlG sieht vor, daß der Vorsitzende oder der von ihm nach § 79 FGO bestimmte Richter tätig wird; das sind der Vorsitzende oder der von ihm bestimmte beisitzende Richter des Senats als Spruchkörper, der aufgrund der vom Präsidium des Gerichts vorgenommenen Geschäftsverteilung berufen ist, die richterlichen Aufgaben in einer bestimmten Sache wahrzunehmen (§ 5 Abs. 2 Satz 1, Abs. 3 Satz 1 FGO; § 21e Abs. 1 Satz 1, § 21g des Gerichtsverfassungsgesetzes - GVG -).

b) Nach der für den Zeitraum vom 1. Januar bis 31. Dezember 1984 durch das Präsidium des FG beschlossenen Geschäftsverteilung war der A-Senat des FG und damit auch der tätig gewordene Berichterstatter dieses Senats im vorliegenden Verfahren nicht für Anordnungen nach Art. 3 § 1 VGFGEntlG berufen.

aa) Nach Abschnitt 1. a des Geschäftsverteilungsplans des FG (§ 21e Abs. 8 GVG) waren, soweit es hier interessiert, die Senate für die Bearbeitung von Rechtsstreitigkeiten wegen Einkommen- und Nebensteuern, sowie Lohnsteuer und Gewerbesteuer, ferner wegen Umsatzsteuer für einzelne aufgezählte FÄ zuständig, soweit keine Zuständigkeit des B-Senats feststand (allgemeine Zuständigkeit der Senate). Die besondere Zuständigkeit des B-Senats erstreckte sich auf Umsatzsteuersachen, soweit es sich nicht um Umsatzschätzungen handelte. Hiernach bestand eine allgemeine Zuständigkeit des A-Senats für Streitsachen betreffend den Amtsbezirk des FA X.

Eine Zuständigkeit der Senate in besonderen Fällen sah Abschnitt 1. b des Geschäftsverteilungsplanes vor. Darunter fiel u. a. (Abschnitt 1. b, bb) die objektive Klagehäufung. Die entsprechende Regelung lautete: ,,Im Fall der objektiven Klagehäufung (§ 43 FGO) ist, wenn auch Einkommen-, Gewerbe- oder Umsatzsteuer im Streit sind, zunächst der Senat zuständig, der zuständig wäre, wenn nur die Einkommen-, Gewerbe- oder Umsatzsteuer streitig wäre. In den übrigen Fällen des § 43 FGO richtet sich diese vorläufige Zuständigkeit nach der Steuerart mit dem höchsten Streitwert. Der hiernach zuständige Senat entscheidet auch über die Trennung nach § 73 Abs. 1 FGO. In Erlaß- und Stundungssachen, in denen die Beschwerdeentscheidung mehrere Steuerarten umfaßt, richtet sich die endgültige Zuständigkeit nach der Steuerart mit dem höchsten Streitwert."

Abschnitt 2. des Geschäftsverteilungsplanes sah ein ,,Verfahren bei Zweifeln über die Zuständigkeit" mit folgendem Inhalt vor: ,,Ist beim Eingang einer Klage oder eines sonstigen Rechtsbehelfs der zuständige Senat nicht erkennbar, trifft der für die Einkommensteuer örtlich zuständige Senat die erforderlichen Ermittlungen zur Feststellung der Zuständigkeit." Mangels einer ausdrücklichen entgegenstehenden Regelung geht der erkennende Senat davon aus, daß die dargestellte Geschäftsverteilung entsprechend für Streitsachen betreffend steuerliche Nebenleistungen gilt.

bb) Entgegen der Auffassung des FG ergibt sich aus dieser Geschäftsverteilung nicht, daß der A-Senat des FG entsprechend Abschnitt 1. a des Geschäftsverteilungsplanes so lange für die Wahrnehmung der richterlichen Aufgaben in der Streitsache zuständig gewesen sei, bis festgestellt war, daß aufgrund des höchsten Streitwerts der B-Senat zuständig sei. Vielmehr richtete sich die Geschäftsverteilung des FG für den Fall der objektiven Klagehäufung, wie er im Streitfall gegeben ist, von Anfang an nach Abschnitt 1. b des Geschäftsverteilungsplans, denn für die Fälle der objektiven Klagehäufung traf der Geschäftsverteilungsplan in Abschnitt 1. b, bb eine dem Abschnitt 1. a vorhergehende Sonderregelung, wie sich aus der Überschrift zu Abschnitt 1. b ,,Zuständigkeit in besonderen Fällen" im Gegensatz zur Überschrift unter Abschnitt 1. a ,,Allgemeine Zuständigkeit" ergibt. Danach war aber keine vorläufige Zuständigkeit bis zu dem Zeitpunkt vorgesehen, in dem der für die endgültige Zuständigkeit maßgebende höchste Streitwert festgestellt war. Vielmehr richtete sich die durch Abschnitt 1. b, bb Satz 2 erfaßte ,,vorläufige Zuständigkeit" bereits nach dem höchsten Streitwert. Satz 1 trifft nicht zu, weil dort nur die Fälle erfaßt werden, in denen - wie sich aus der Einfügung des Wortes ,,auch" ergibt - die objektive Klagehäufung auf einer Zusammenfassung von Klagebegehren betreffend Einkommen-, Gewerbe- oder Umsatzsteuer mit anderen Klagebegehren beruht. Auch Satz 4 der genannten Vorschrift ändert daran nichts; der erkennende Senat versteht diese Regelung dahingehend, daß - anders als in den übrigen Fällen objektiver Klagehäufung nach Abschnitt 1. b, bb Satz 3 - bei einer Zusammenfassung mehrerer Steuerarten in einer Beschwerdeentscheidung eine Trennung nach § 73 Abs. 1 FGO nicht vorgenommen werden sollte.

War bei Eingang der Klage der nach der genannten Bestimmung des Geschäftsverteilungsplanes zuständige Senat nicht erkennbar, weil - wie im Streitfall - nicht bekannt war, welche Steuerart den höchsten Streitwert hatte, so war, was in der Vorentscheidung nicht berücksichtigt worden ist, nach Abschnitt 2 des Geschäftsverteilungsplanes zu verfahren. Danach war es zwar zutreffend, daß zunächst der für die Einkommensteuer zuständige A-Senat tätig geworden ist. Er konnte aber nach dieser Regelung nur tätig werden, um die erforderlichen Ermittlungen zur Feststellung der Zuständigkeit zu treffen. Eine Befugnis zu weitergehenden Maßnahmen, insbesondere zur Fristsetzung nach Art. 3 § 1 VGFGEntlG, ergibt sich hieraus nicht; diese war dem B-Senat als dem nach Abschnitt 1. b, bb Satz 2 und Satz 4 des Geschäftsverteilungsplans ,,vorläufig" und ,,endgültig" zuständigen Senat vorbehalten.

 

Fundstellen

BFH/NV 1991, 178

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