Entscheidungsstichwort (Thema)

Verfahrensrecht/Abgabenordnung Gewerbesteuer Einkommensteuer/Lohnsteuer/Kirchensteuer

 

Leitsatz (amtlich)

Der I. Senat schließt sich der Auffassung des VI. Senats im Urteil VI 94/62 S vom 22. Januar 1964, BStBl 1964 III S. 201, Slg. Bd. 78 S. 528, an, daß ein Bescheid, der eine unrichtige Rechtsmittelbelehrung enthält, im allgemeinen nicht mehr angefochten werden kann, wenn seit der Bekanntgabe des Bescheids ein Jahr verstrichen ist. Dem steht nicht entgegen, daß der Stpfl. den Bescheid nur deshalb nicht angefochten hat, weil er auf die Rechtsgültigkeit einer später für verfassungswidrig erklärten Rechtsnorm vertraut hat.

Konnte ein Gewerbesteuermeßbescheid bereits vor dem 25. Januar 1962 infolge Verwirkung nicht mehr angefochten werden, so kann er nicht nach § 36 a Abs. 1 Satz 1 GewStG 1962 berichtigt werden.

 

Normenkette

AO § 246 Abs. 3, § 237/2; GewStG § 8 Ziff. 6, § 36a; StAnpG § 4 Abs. 3 Ziff. 2

 

Tatbestand

Streitig ist, ob die Gewerbesteuerbescheide 1957 und 1958, die zum Teil auf einer für verfassungswidrig erklärten Norm beruhen, berichtigt werden können.

Gegen die Revisionsklägerin (Steuerpflichtige - Stpfl. -) ergingen für die Streitjahre Gewerbesteuerbescheide, die bei der Ermittlung des Gewerbeertrags Hinzurechnungen zum Gewinn nach § 8 Ziff. 6 GewStG enthalten. Die Bescheide wurden am 7. November 1958 und 5. Februar 1960 zur Post gegeben und sind zugegangen. In der Rechtsmittelbelehrung beider Bescheide heißt es u. a.:

"Die Rechtsmittelfrist beträgt einen Monat. Sie beginnt mit Ablauf des Tages, an dem Ihnen dieser Bescheid zugestellt oder bekanntgegeben worden ist. Als Tag der Bekanntgabe gilt bei übersendung durch einfachen oder eingeschriebenen Brief der dritte Tag nach der Aufgabe zur Post."

Am 6. November 1962 legte die Stpfl. gegen beide Bescheide Sprungberufung ein. Sie beantragte, im Hinblick auf die Nichtigerklärung des § 8 Ziff. 6 GewStG durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) 1 BvR 845/58 vom 24. Januar 1962 (BStBl I S. 500) die auf dieser Vorschrift beruhende Hinzurechnung in Wegfall zu bringen. Dies sei möglich, weil die Bescheide nicht rechtskräftig geworden seien. In der Rechtsmittelbelehrung fehle der Hinweis, daß die Rechtsmittelfrist bei einer späteren Zustellung erst mit Ablauf des Tages der tatsächlichen Zustellung beginne und daß im Zweifel die Behörde den Zugang des Bescheides zu beweisen habe. Wegen dieser unvollständigen Rechtsmittelbelehrung sei die Rechtsmittelfrist nicht in Lauf gesetzt worden. Eine Verwirkung des Anfechtungsrechts sei nicht eingetreten, da sie im Vertrauen auf die Verfassungsmäßigkeit des § 8 Ziff. 6 GewStG die Bescheide zunächst nicht habe anfechten können. Die Verwirkungsfrist von einem Jahr könne frühestens in dem Zeitpunkt zu laufen beginnen, in dem sie erstmals die Möglichkeit gehabt habe, die Bescheide nach Ergehen des Urteils des BVerfG 1 BvR 845/58 anzufechten.

Das Finanzgericht (FG) verwarf die Berufung als unzulässig.

Es ging davon aus, daß die Bescheide zweieinhalb und vier Jahre nach Zugang infolge Verwirkung nicht mehr angefochten werden könnten. Auch nach § 4 Abs. 3 Ziff. 2 StAnpG sei eine Berichtigung nicht zulässig.

Mit der Rb. (Revision) rügt die Stpfl. unrichtige Anwendung des bestehenden Rechts. Ergänzend beruft sie sich auf § 36 a Abs. 1 Satz 1 GewStG 1962. Nach dieser Vorschrift lägen die Voraussetzungen für eine Berichtigung der Gewerbesteuerbescheide vor.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist nicht begründet.

Es trifft zu, daß die Rechtsmittelbelehrung aus den von der Stpfl. angeführten Gründen unrichtig war und daher gemäß § 246 AO a. F. die Rechtsmittelfrist nicht in Lauf gesetzt hat (Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - VI 94/62 S vom 22. Januar 1964, BStBl 1964 III S. 201, Slg. Bd. 78 S. 528). Im Urteil VI 94/62 S (a. a. O.) ist jedoch auch ausgesprochen, daß ein Bescheid, der eine unrichtige Rechtsmittelbelehrung enthält, im allgemeinen nicht mehr angefochten werden kann, wenn seit der Bekanntgabe des Bescheids ein Jahr verstrichen ist. Diese Voraussetzungen liegen hier vor.

Zwar führt der Zeitablauf allein noch keine Verwirkung herbei. Die Verwirkung gründet sich jedoch im vorliegenden Fall nicht auf bloßen Zeitablauf, sondern auf das jahrelange Schweigen der Stpfl. nach Zugang der Gewerbesteuerbescheide und auf die Vorstellungen, die dieses Schweigen im Rechtsverkehr hervorgerufen hat. Das Prozeßrecht wird von dem Gedanken beherrscht, möglichst schnell klare und sichere Rechtsverhältnisse zu schaffen. Dies ergibt sich sowohl aus den kurz bemessenen Rechtsmittelfristen wie auch aus § 87 Abs. 5 AO a. F., wonach die Geltendmachung von Nachsichtgründen wegen Versäumung der Rechtsmittelfrist nach einem Jahr ausgeschlossen ist. Dieses auf Rechtssicherheit gerichtete Ziel des Prozeßrechts läßt es nicht zu, daß der Bestand eines Verwaltungsakts unbeschränkt lange in der Schwebe bleibt, sondern gebietet ein Tätigwerden des Betroffenen innerhalb einer angemessenen Frist, wenn er gegen den Verwaltungsakt Einwendungen geltend machen will. Dann ist es aber auch gerechtfertigt, das jahrelange Schweigen des Steuerpflichtigen auf einen ihm bekanntgewordenen Verwaltungsakt im Rechtsverkehr dahin zu deuten, daß er den Verwaltungsakt als bestandskräftig hinnehmen will. Legt der Steuerpflichtige erst nach mehreren Jahren ein Rechtsmittel ein, so setzt er sich in der Regel zu seinem eigenen Verhalten in Widerspruch.

Die Verwirkung des Anfechtungsrechts wird im Streitfall auch nicht dadurch ausgeschlossen, daß die Stpfl. auf die verfassungsrechtliche Gültigkeit des § 8 Ziff. 6 GewStG vertraut hat. Die Verwirkung des Anfechtungsrechts gründet sich, wie dargelegt, auf den Eindruck, den das jahrelange Schweigen im Rechtsverkehr erweckt hat. Dieser Eindruck wird unabhängig davon hervorgerufen, welche Gründe den Steuerpflichtigen bewogen haben, innerhalb einer angemessenen Frist von einer Anfechtung eines Verwaltungsakts abzusehen.

Auch § 36 a Abs. 1 Satz 1 GewStG 1962 führt hier zu keiner anderen Beurteilung. Diese Vorschrift hat den Sinn, für eine übergangszeit, in der die Verfassungswidrigkeit auf Grund des bereits ergangenen Urteils des BVerfG hätte gerügt werden können, wegen Unkenntnis dieser Entscheidung aber nicht gerügt worden ist, eine Berichtigung unanfechtbarer Bescheide zu ermöglichen (BFH-Urteil I 204/63 U vom 19. Oktober 1965, BStBl 1965 III S. 669). Aus diesem Gesetzeszweck ergibt sich, daß "rechtskräftig" im Sinne dieser Vorschrift gleichbedeutend ist mit "unanfechtbar" und daß eine Berichtigung ausscheiden muß, wenn eine Anfechtung des Bescheids bereits vor dem 25. Januar 1962 nicht mehr möglich gewesen ist. Diese Voraussetzungen liegen hier vor, da die Gewerbesteuerbescheide 1957 und 1958 bereits vor dem 25. Januar 1962 infolge Verwirkung nicht mehr angefochten werden konnten.

Eine Berichtigung der Bescheide ist auch nicht nach § 4 Abs. 3 Ziff. 2 StAnpG zulässig, weil durch das Urteil des BVerfG kein Merkmal der Besteuerung weggefallen ist (BFH-Urteil I 143/64 S vom 28. Oktober 1964, BStBl 1965 III S. 196, Slg. Bd. 81 S. 542).

Die Revision war daher als unbegründet zurückzuweisen.

 

Fundstellen

Haufe-Index 411988

BStBl III 1966, 330

BFHE 1966, 337

BFHE 85, 337

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