Entscheidungsstichwort (Thema)

Verfahrensrecht/Abgabenordnung

 

Leitsatz (amtlich)

Ist in einer mündlichen Verhandlung eine Beweisaufnahme nicht protokolliert worden und ist das mit Einverständnis der Beteiligten ohne eine weitere mündliche Verhandlung ergangene Urteil nicht von den Richtern gefällt, die an der durchgeführten mündlichen Verhandlung teilgenommen haben, so ist der Grundsatz der Unmittelbarkeit des Verfahrens verletzt, wenn in dem Urteil ein aus den Akten nicht ersichtliches Ergebnis der Beweisaufnahme verwertet wird.

AO §§ 278, 279.

 

Normenkette

AO § 278; FGO § 96 Abs. 1; AO § 279; FGO § 96 Abs. 2

 

Tatbestand

Bei dem Revisionskläger (Steuerpflichtigen - Stpfl. -) wurde im Jahre 1957 eine Betriebsprüfung und Steuerfahndung durchgeführt, die einen ungeklärten Vermögenszuwachs von 45.360 DM ergaben, Der Revisionsbeklagte (das Finanzamt - FA -) verteilte diesen Betrag auf die Jahre 1951 bis 1956 und rechnete die Teilbeträge den erklärten Umsätzen und den Einkünften aus Gewerbebetrieb hinzu. Den Vermögenszuwachs erklärte der Stpfl. mit Spielbankgewinnen, für deren Vorliegen er Zeugen benannte. Der Zeuge B. sei an den Tagen, an denen er die Spielgewinne gemacht habe, ebenfalls in dem Spielkasino gewesen und wisse aus den geführten Gesprächen, daß und wieviel er gewonnen habe. Ebenso sollte der Zeuge K. bekunden können, daß der Stpfl. detailliert von Spielgewinnen gesprochen habe.

In der öffentlichen Sitzung des Finanzgerichts vom 24. September 1963 wurden die Zeugen gehört. Nach dem Protokoll der Sitzung bestätigten sie die Behauptungen des Stpfl.; von einer Protokollierung der Zeugenaussagen wurde mit Zustimmung der Beteiligten abgesehen. Außer den beamteten Mitgliedern der Kammer waren an der Verhandlung die Herren C., D. und E. als ehrenamtliche Mitglieder beteiligt. Die Kammer beschloß in dieser Besetzung, weitere Feststellungen über die Zusammensetzung des Umsatzes und den Rohgewinnaufschlag zu treffen. Auf eine Anfrage des Prozeßvertreters des Stpfl. vom 10. Juni 1964 erklärte das Finanzgericht, es sei beabsichtigt, die Sache in einer der nächsten Sitzungen zu erledigen. Am 8. September 1964 bestätigte auf fernmündliche Anfrage der Prozeßvertreter dem Finanzgericht, der Stpfl. sei "mit der Entscheidung über die Berufungen ohne weitere mündliche Verhandlung einverstanden". Hiernach traf das Finanzgericht durch die beamteten Mitglieder der Kammer unter Beisitz der Herren F., G. und H. als ehrenamtliche Mitglieder die Vorentscheidungen, die die Berufung als unbegründet zurückwiesen.

Mit den Rbn., die nach § 184 Abs. 1 FGO als Revisionen zu behandeln sind, rügt der Stpfl., daß bei den Vorentscheidungen sämtliche ehrenamtlichen Mitglieder nicht mitgewirkt hätten, welche an der mündlichen Verhandlung am 24. September 1963 teilgenommen hatten. Wenn er auf den Richterwechsel hingewiesen worden wäre, hätte er sich mit der Entscheidung ohne mündliche Verhandlung nicht einverstanden erklärt. In der Protokollierung fehle unter anderem die substantiierte Erklärung des Zeugen B., daß er dem Spiel des Stpfl. mehrere Stunden zugeschaut habe und zweifellos erhebliche Gewinne feststellen konnte. Dem Betreuer seines Bauvorhabens, K., habe er die Gewinnsumme nach Tausenden genannt. Alle diese Umstände seien den drei ehrenamtlichen Richtern mangels mündlicher Verhandlung nicht vor Augen geführt worden. Das hierauf ergangene, dem Stpfl. ungünstige Urteil dürfte darauf zurückzuführen sein. Für keinen der in diesem Verfahren Beteiligten, d. h. also auch für das FA, habe nach Schluß der mündlichen Verhandlung ein Zweifel bestanden, daß die Berufung dem Grunde nach Erfolg haben müßte.

 

Entscheidungsgründe

Die Sachen I 40/65und I 48/65 werden zur einheitlichen Entscheidung zusammengefaßt, weil für denselben Stpfl. die gleichen Rechtsfragen zur Entscheidung stehen.

Die Revisionen führen zur Aufhebung der Vorentscheidungen.

Nach § 278 AO entscheidet das Finanzgericht über tatsächliche Verhältnisse nach seiner freien, aus der Verhandlung und einer Beweisaufnahme geschöpften Überzeugung. Urteile, die auf Grund einer mündlichen Verhandlung ergehen, können nur von den Mitgliedern erlassen werden, die an ihr teilgenommen haben. Diese Vorschriften sind Ausdruck des Grundsatzes der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme und des Verfahrens, der auch im Steuerrecht gilt (vgl. auch Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - IV 305/55 U vom 7. März 1957, BStBl 1957 III S. 197, Slg. Bd. 64 S. 528). Das bedeutet aber, daß der persönliche Eindruck, den die Richter aus der Verhandlung und der Beweisaufnahme gewonnen haben, maßgeblich für die Urteilsfindung sein soll. Wenn schon der Wert der mündlichen Verhandlung in der besonderen Sachaufklärung liegt (BFH-Entscheidung I 181/60 S vom 17. Oktober 1961, BStBl 1962 III S. 57, Slg. Bd. 74 S. 151) und wie keine andere prozessuale Maßnahme geeignet ist, der Erforschung des Sachverhalts bis in alle Einzelheiten zu dienen (Urteildes BFH IV 410/52 U vom 29. Oktober 1953, BStBl 1954 III S. 6, Slg. Bd. 58 S. 239), so kann dieses Ziel nur erreicht werden, wenn diejenigen Richter über den Streitfall entscheiden, denen alle das Urteil beeinflussenden Vorgänge bekannt sind. Tritt ein Richterwechsel ein und soll auf Grund mündlicher Verhandlung entschieden werden, so muß die mündliche Verhandlung wiederholt werden.

Es kann hier dahingestellt bleiben, ob der Stpfl. wirksam auf die erneute mündliche Verhandlung verzichtet hat oder ob er mit Recht der Ansicht sein konnte, daß dieser Verzicht nur unter der Voraussetzung erfolgte, daß dieselben Richter entschieden, die auch an der mündlichen Verhandlung teilgenommen hatten. Wird auf die mündliche Verhandlung verzichtet und tritt ein Richterwechsel ein, so müssen die Richter, die an der Beweisaufnahme nicht beteiligt waren, an Hand der Akten über den Inhalt der mündlichen Verhandlung - hier insbesondere über den Inhalt der Zeugenaussagen - unterrichtet werden. Dies war aber hier nicht möglich, weil von der Protokollierung der Zeugenaussagen abgesehen worden war. Damit wird dem Urteil nicht nur der Akteninhalt, sondern auch ein aus den Akten nicht ersichtliches Beweisergebnis zugrunde gelegt, was dem Grundsatz der Unmittelbarkeit des Verfahrens widerspricht und die Rüge des Verfahrensmangels rechtfertigt. Ein Vortrag des Berichterstatters kann in diesem Fall nicht genügen, weil sich die Beteiligten zu dem Vortrag nicht äußern können.

Das Verfahren der Vorinstanz leidet darum an einem wesentlichen Mangel, ohne den die Entscheidung möglicherweise anders ausgefallen wäre. Die Vorentscheidungen sind darum aufzuheben, damit das Finanzgericht auf Grund erneuter Beweisaufnahme entscheidet.

 

Fundstellen

BStBl III 1966, 293

BFHE 85, 229

StRK, AO:278 R 17

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