Entscheidungsstichwort (Thema)

Verfahrensrecht/Abgabenordnung

 

Leitsatz (amtlich)

Die einem berufsmäßigen Vertreter in Steuersachen durch Erklärung ihm gegenüber erteilte Vollmacht ermächtigt den Vertreter auch, ein eingelegtes Rechtsmittel zurückzunehmen.

 

Normenkette

AO § 102 Abs. 2

 

Tatbestand

Der Beschwerdeführer (Bf.) ist Tischlermeister. Nach einer Betriebsprüfung schätzte das Finanzamt die Umsätze für II/1948 auf 10.000 DM und für 1949 auf 19.000 DM sowie die Gewinne auf 35 v. H. der Umsätze. Gegen die Steuerbescheide legte der Helfer in Steuersachen Dr. S. Einspruch ein und beantragte Herabsetzung der Umsätze und Gewinne nach Maßgabe einer von ihm vorgenommenen Umsatzverprobung. Bevor das Finanzamt über den Einspruch entschied, zog Dr. S. das Rechtsmittel gegen die Einkommensteuerveranlagungen zurück. Nachträglich setzte das Finanzamt auf Antrag von Dr. S. die Einkommensteuer für II/1948 und 1949 herab, indem es die Steuer statt nach der Steuerklasse III/1 nach der Steuerklasse III/2 berechnete. Gegen die Berichtigungsbescheide legte der Bf. selbst Einspruch ein. Er behauptete, Dr. S. habe den früheren Einspruch ohne Vollmacht zurückgenommen. Er sei nur bevollmächtigt gewesen, Einspruch einzulegen. Umsatz und Gewinn seien zu hoch festgesetzt. Dr. S. sei bei Rücknahme des Einspruchs vom Finanzamt darüber getäuscht worden.

Das Finanzamt verwarf den Einspruch als unzulässig. Das Finanzgericht wies die Berufung als unbegründet zurück.

Inzwischen hat das Finanzamt auf den gegen die Umsatzsteuerbescheide für II/1948 und 1949 eingelegten Einspruch, den Dr. S. nicht zurückgenommen hatte, entsprechend dem Vorschlag von Dr. S. den Umsatz für II/1948 von 10.000 DM auf 6.000 DM und für 1949 von 19.000 DM auf 14.000 DM herabgesetzt.

 

Entscheidungsgründe

Die Rechtsbeschwerde (Rb.) ist nicht begründet.

Der Einwand des Bf., Dr. S. habe keine schriftliche Vollmacht gehabt, greift nicht durch. Nach § 102 Abs. 2 der Reichsabgabenordnung (AO) gelten für die Vertretung und Vollmacht im Besteuerungsverfahren, soweit nicht etwas anderes bestimmt ist, die Vorschriften des bürgerlichen Rechts. Nach den Vorschriften der §§ 164 ff. des Bürgerlichen Gesetzbuches, die die Vertretung und Vollmacht für das bürgerliche Recht regeln, braucht eine Vollmacht nicht schriftlich erteilt zu werden, während in § 80 der Zivilprozeßordnung (ZPO) grundsätzlich der Nachweis der Bevollmächtigung durch schriftliche Vollmacht vorgesehen ist. Die Vollmacht für das Besteuerungsverfahren kann durch Erklärung gegenüber dem zu Bevollmächtigenden oder gegenüber den Finanzbehörden erteilt werden (ß 167 des Bürgerlichen Gesetzbuches). Wie weit die Vertretungsmacht geht, wie weit also der Vollmachtgeber die Erklärungen seines Bevollmächtigten gegen sich gelten lassen muß, ist im Einzelfall durch Auslegung der Willenserklärung des Vollmachtgebers festzustellen. Bei der Bestimmung des Inhalts einer Vollmacht muß auch den Erfordernissen der Klarheit und Rechtssicherheit sowie der Verkehrsauffassung und der allgemeinen übung entscheidende Bedeutung beigemessen werden (Entscheidungen des Reichsgerichts in Zivilsachen Bd. 100 S. 48; Urteil des Bundesgerichtshofs vom 27. September 1956 II Z R 178/55, "Der Betrieb" 1956 S. 962). § 81 ZPO, der den Umfang einer Vollmacht für den Zivilprozeß festlegt, kann im Steuerrechtsstreit nicht unmittelbar angewandt werden. Es besteht aber kein Bedenken, in Zweifelsfällen die Vorschrift bei der Bestimmung des Umfangs einer Vollmacht mit heranzuziehen, soweit nicht Vorschriften der AO entgegenstehen (Urteil des Reichsfinanzhofs V 554/37 vom 14. Juli 1939, Slg. Bd. 47 S. 168, Reichssteuerblatt - RStBl - 1939 S. 881).

Im Besteuerungsverfahren werden verhältnismäßig selten schriftliche Vollmachten vorgelegt. Die Erteilung der Vollmacht geschieht meist mündlich durch Erklärung gegenüber dem Bevollmächtigten, der sich daraufhin unter Berufung auf die ihm erteilte Vollmacht beim Finanzamt meldet und Rechtshandlungen im Namen des Steuerpflichtigen vornimmt. So ist es auch im vorliegenden Fall geschehen. Das Gesetz geht in § 254 Abs. 2 AO davon aus, daß im Rechtsmittelverfahren die Vollmacht nur auf Verlangen des Gerichts nachzuweisen ist. Diese Vorschrift gilt sinngemäß auch für das Ermittlungsverfahren vor dem Finanzamt. Die Besteuerungspraxis der Finanzämter ist stets danach verfahren.

Was den Umfang einer vom Steuerpflichtigen erteilten Vollmacht angeht, so ist in erster Linie der erklärte Wille des Steuerpflichtigen dafür maßgebend. Hat der Steuerpflichtige den Umfang der Vollmacht nicht ausdrücklich und genau begrenzt, so muß im Interesse der Verkehrssicherheit der Bevollmächtigte als zu allen Rechtsgeschäften ermächtigt gelten, die üblicherweise in den Bereich der Vollmacht gehören. Dazu gehört, wie im Urteil des Bundesfinanzhofs IV 524/52 U vom 30. Juli 1953 (Slg. Bd. 57 S. 760, Bundessteuerblatt - BStBl - 1953 III S. 288) am Schluß ausgeführt ist, ein Rechtsmittelverzicht. Auch die Rücknahme eines eingelegten Rechtsmittels muß dazu gerechnet werden, zumal wenn der Bevollmächtigte selbst das Rechtsmittel eingelegt hatte- So ermächtigt entsprechend auch nach § 81 ZPO die Prozeßvollmacht den Vertreter zu allen den Rechtsstreit betreffenden Prozeßhandlungen, insbesondere zu einem Vergleich oder zu einer Anerkennung des streitigen Anspruchs.

Im Streitfall behauptet der Bf. nicht, daß er die Vertretungsmacht des Dr. S. von vornherein auf die Einlegung des Einspruchs beschränkt habe. Dr. S. hat auch die ihm erteilte Vollmacht nicht als beschränkt aufgefaßt. Denn er hat ausdrücklich "im Auftrag" des Bf. nicht nur das Rechtsmittel eingelegt, sondern auch zurückgenommen. Dafür, daß Dr. S. den Einspruch auf Grund einer Irreführung durch das Finanzamt zurückgenommen habe liegt kein Anhalt vor. Der Bf. sieht offenbar den entscheidenden Mangel darin, daß Dr. S. vor der Rücknahme des Einspruchs nicht mit ihm gesprochen und sein Einverständnis eingeholt habe. Es kann dahingestellt bleiben, ob Dr. S. vor Rücknahme des Einspruchs nicht zweckmäßig mit dem Bf. Rücksprache genommen hätte, zumal er in seinem Schriftsatz selbst gewichtige Bedenken gegen die Höhe der Schätzung geäußert hatte. Denn diese Frage geht nur die Ausführung des erteilten Auftrags, also das Innenverhältnis zwischen dem Bf. und Dr. S., an. Es kann auch dahingestellt bleiben, ob der Bf., wenn er von vornherein Dr. S. entgegen der allgemeinen übung nur zur Einlegung des Einspruchs bevollmächtigt und andere übliche Rechtshandlungen von der Vollmacht ausgeschlossen hätte, diese Einschränkung dem Finanzamt nicht im Interesse der Rechtssicherheit ausdrücklich hätte mitteilen müssen (vgl. das erwähnte Urteil des Bundesfinanzhofs IV 524/52 U). Denn im vorliegenden Fall war Dr. S. uneingeschränkt bevollmächtigt und konnte also im Rahmen der ihm erteilten Vollmacht, wie oben ausgeführt, wirksam den Einspruch zurücknehmen.

Der Bf. behauptet ferner, er habe, nachdem er die Rücknahme des Einspruchs erfahren habe, alsbald dem Vorsteher des Finanzamts erklärt, Dr. S. habe seine Vollmacht überschritten. Durch diese Erklärung konnte die eingetretene Rechtskraft nicht wieder beseitigt werden. Ebensowenig konnte der Vorsteher des Finanzamts dem Bf. die Möglichkeit geben, nach Rechtskraft das zurückgenommene Rechtsmittel nochmals einzulegen. Es spricht im übrigen dafür, daß der Vorsteher des Finanzamts dem Bf. Zusagen dieser Art machen wollte.

Der vom Steuerpflichtigen selbst eingelegte Einspruch ist erst nach Ablauf der Rechtsmittelfrist beim Finanzamt eingegangen. Selbst wenn dem Bf. Nachsicht wegen Versäumung der Rechtsmittelfrist gewährt würde, könnte das Rechtsmittel sachlich keinen Erfolg haben. Nach § 234 AO sind Steuerbescheide, die frühere Steuerbescheide ändern, nur insoweit selbständig anfechtbar, als die änderung reicht. Da durch die Berichtigungsbescheide die Einkommensteuer nicht heraufgesetzt, sondern infolge des günstigeren Familienstands herabgesetzt worden war, konnte der Bf. die Bescheide nicht anfechten.

Es ist auch rechtlich ohne Bedeutung, daß inzwischen die Umsätze, auf denen die Gewinnschätzung beruht, herabgesetzt worden sind. Die Rechtsmittelverfahren in der Einkommensteuer- und Umsatzsteuersache laufen selbständig nebeneinander. Das Finanzamt kann aber prüfen, ob es nicht, nachdem es die Umsätze für II/1948 und 1949 niedriger festgesetzt hat, aus Billigkeitsgründen daraus auch die Folgerungen für die Gewinne, die auf der Grundlage der höheren Umsätze geschätzt worden sind, ziehen will.

 

Fundstellen

BStBl III 1957, 7

BFHE 1957, 19

BFHE 64, 19

StRK, AO:102 R 2

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