Entscheidungsstichwort (Thema)

Verfahrensrecht/Abgabenordnung

 

Leitsatz (amtlich)

Zur Wirksamkeit eines vor Erlaß des Steuerbescheids ausgesprochenen Rechtsmittelverzichts ist unter anderem erforderlich, daß das Finanzamt dem Steuerpflichtigen die sich nach den Tarifvorschriften des maßgeblichen Gesetzes - z. B. des Einkommensteuergesetzes - ergebende Steuer bekanntgibt. Es ist nicht erforderlich, daß das Finanzamt dem Steuerpflichtigen die Höhe der Nachzahlung bzw. Erstattung bekanntgibt, die sich nach der Steuerfestsetzung unter Berücksichtigung bereits geleisteter Steuern oder Vorauszahlungen ergeben wird. Geht der Steuerpflichtige in dieser Hinsicht von einer falschen Vorstellung aus, so ist sie als Irrtum im Beweggrund unbeachtlich.

 

Normenkette

AO §§ 248, 235

 

Tatbestand

Bei einer im Jahre 1956 durchgeführten Betriebsprüfung ergaben sich Feststellungen, die zu einer Berichtigung der Einkommensteuerbescheide II/1948 bis 1953 und zu einer entsprechenden erstmaligen Veranlagung für die Veranlagungszeiträume 1954 und 1955 führten. Vor Erlaß der Berichtigungsbescheide für II/1948 bis 1953 bzw. der Einkommensteuerbescheide für die Veranlagungszeiträume 1954 und 1955 verzichtete der Bf. durch Erklärung vom 15. Februar 1956 auf "Rechtsmittel aller Art". Soweit die Veranlagungszeiträume II/1948 bis 1954 in Betracht kommen, enthält die Verzichtserklärung jeweils den später im Bescheid zugrunde gelegten gewerblichen Gewinn und das später im Bescheid zugrunde gelegte Einkommen. Statt der sich nach dem Einkommen für die einzelnen Veranlagungszeiträume ergebenden Steuerfestsetzungen enthält die Verzichtserklärung lediglich die Beträge, die auf der Grundlage der vorzunehmenden Steuerfestsetzungen bei Berücksichtigung der bereits geleisteten Beträge noch zu zahlen bzw. zu erstatten waren. Danach ergab sich für die Veranlagungszeiträume II/1948 bis 1953 an Einkommensteuer eine Nachzahlung von insgesamt 25.213 DM und für 1954 - im Hinblick auf geleistete Vorauszahlungen - eine Erstattung in Höhe von 432 DM.

Für den Veranlagungszeitraum 1955 war eine Einkommensberechnung sowie eine Steuerberechnung und demzufolge auch eine Berechnung des nachzuzahlenden oder zu erstattenden Betrages nicht möglich, weil im Zeitpunkt der Verzichtserklärung die Höhe der Sonderausgaben für 1955 nicht feststand. Demgemäß beschränkte sich der Bf. auf die folgende Erklärung: "Ich verzichte außerdem auf ein Rechtsmittel gegen die USt.-, Eink.-St.- und Gew.-St.-Bescheide für das Kj. 1955 hinsichtlich der Höhe des festgestellten Umsatzes (178.000 DM) und Gewerbegewinns (23.277 DM), wenn diese als Besteuerungsgrundlagen zum Ansatz kommen."

In einem lediglich die Einkommensteuersache 1955 betreffenden Rechtsmittelverfahren erklärte das Finanzgericht durch rechtskräftig gewordenes Zwischenurteil IV 174/58 - FG 42 vom 15. April 1958 den Rechtsmittelverzicht, soweit er sich auf das Jahr 1955 bezieht, wegen Verstoßes gegen die Grundsätze des Urteils des Bundesfinanzhofs IV 524/52 U vom 30. Juli 1953 (BStBl 1953 III S. 288, Slg. Bd. 57 S. 760) für rechtsunwirksam. Das Finanzamt ermäßigte daraufhin durch Abhilfebescheid nach § 94 AO die ursprüngliche Einkommensteuer 1955 von 5.076 DM um 472 DM auf 4.604 DM.

Im Einspruchsverfahren gegen die Berichtigungsbescheide zur Einkommensteuer II/1948 bis 1953 und gegen den Einkommensteuerbescheid zur Einkommensteuer 1954 macht der Bf. geltend, daß die Unwirksamkeit des zur Einkommensteuer 1955 erklärten Rechtsmittelverzichts auch die Rechtsunwirksamkeit seiner Verzichtserklärung zur Einkommensteuer II/1948 bis 1954 zur Folge habe, obwohl sie insoweit - für sich betrachtet - den Grundsätzen des genannten Urteils des Bundesfinanzhofs vom 30. Juli 1953 entspreche. Seine Verzichtserklärung vom 15. Februar 1956 sei als "einheitliches Ganzes" zu beurteilen. Für ihn - den Bf. - sei bei Abgabe dieser Erklärung nicht die Höhe der Steuerfestsetzungen, sondern allein der Gesamtbetrag der im Endergebnis noch zu leistenden Steuernachzahlungen maßgebend gewesen. Von diesen überlegungen habe er sich leiten lassen. Dabei sei er der Meinung gewesen, daß er - wie für 1954 - so auch für 1955 mit einer Erstattung zu rechnen habe, und zwar - für 1955 - in Höhe von 1.000 DM. Statt dessen habe sich auf der Grundlage des vom Finanzamt errechneten und in der Verzichtserklärung genannten Gewinns von 23.277 DM nicht eine Erstattung von 1.000 DM, sondern folgende Nachzahlung ergeben:

Einkommensteuer ---------- 768 DM Abgabe Notopfer Berlin -----=M Gewerbesteuer -------------1.557 DM -------------------------- 2.416 DM Das bedeute bei Berücksichtigung der erwarteten Erstattung von 1.000 DM eine Differenz von insgesamt 3.416 DM. Wäre er sich darüber im klaren gewesen, hätte er den Rechtsmittelverzicht nicht unterschrieben. Das Finanzamt habe es - entgegen seiner Pflicht - unterlassen, ihn darauf hinzuweisen, mit welcher Nachzahlung er für 1955 "unter Zugrundelegung seiner geleisteten Vorauszahlungen" zu rechnen habe.

Das Finanzamt hat die Einsprüche des Bf. unter Hinweis auf den nach seiner Auffassung insoweit jedenfalls rechtswirksamen Rechtsmittelverzicht des Bf. vom 15. Februar 1956 als unzulässig verworfen.

Die Berufung des Bf. gegen diese Entscheidung blieb ohne Erfolg. Das Finanzgericht hat seine Entscheidung im wesentlichen wie folgt begründet: Bei einem sich auf mehrere Veranlagungszeiträume beziehenden Rechtsmittelverzicht seien die Steuerarten und die nachzuzahlende Steuer jeweils getrennt aufzuführen. Schon daraus ergebe sich, daß es sich bei einem Rechtsmittelverzicht, der sich - wie hier - äußerlich auf sämtliche in der Verzichtsurkunde aufgeführten Veranlagungszeiträume beziehe, inhaltslos um mehrere, voneinander unabhängige Rechtsmittelverzichte handle. Daß jedenfalls der sich auf den Veranlagungszeitraum 1955 beziehende Rechtsmittelverzicht selbständig neben dem sich auf die Veranlagungszeiträume II/1948 bis 1954 beziehenden Rechtsmittelverzicht stehe, ergebe sich eindeutig aus der Verzichtsurkunde vom 15. Februar 1956 selbst. Nach dem Inhalt dieser Urkunde könne kein Zweifel daran bestehen, daß der Veranlagungszeitraum 1955 nur anhangweise behandelt wurde. Er sei demzufolge auch äußerlich verschieden von der anderen Verzichtserklärung behandelt worden. Dementsprechend sei auch der Steuerbescheid für 1955 zu einem anderen Zeitpunkt ergangen als die anderen Bescheide. Da mithin die Steuernachforderungen für die einzelnen Veranlagungszeiträume in sich verschiedene Rechtsgeschäfte darstellten, berühre die Rechtsunwirksamkeit des für 1955 erklärten Verzichts nicht die Wirksamkeit der für II/1948 bis 1954 ausgesprochenen Verzichtserklärungen. Im übrigen sei der Bf. auch nicht beschwert. Für II/1948 bis 1954 seien die Bescheide in übereinstimmung mit den sich aus der Verzichtsurkunde ergebenden tatsächlichen Steuernachforderungen ergangen. Soweit für 1955 zunächst eine Beschwer gegeben gewesen sei, sei sie mit Zustimmung des Bf. gemäß § 94 AO beseitigt worden.

 

Entscheidungsgründe

Dagegen wendet sich die Rechtsbeschwerde. Sie kann gleichfalls keinen Erfolg haben. Der Vorentscheidung ist im Ergebnis beizutreten.

Die Vorinstanz wie der Bf. verkennen Wesen und Tragweite des Rechtsmittelverzichts, wenn sie bei ihren rechtlichen überlegungen maßgebliches Gewicht auf die Höhe der Steuernachforderung - also auf den Unterschiedsbetrag zwischen der ursprünglich festgesetzten und der im Berichtigungsbescheid festgesetzten Steuer bzw. den Vorauszahlungen und der im Bescheid festgesetzten Steuer - legen. Das wird klar, wenn man sich die Rechtslage zunächst am Fall des Steuerbescheids selbst vergegenwärtigt. Der Steuerbescheid schließt das Ermittlungs- und Festsetzungsverfahren im Sinne der §§ 204 ff. AO durch die in ihm enthaltene Steuerfestsetzung ab (ß 210 AO). Dabei ist die kassenmäßige Abrechnung ohne Bedeutung, da sie nicht im Steuerfestsetzungsverfahren, sondern ausschließlich im Erhebungsverfahren ergeht. Das kommt in neuerer Zeit auch sichtbar dadurch zum Ausdruck, daß die kassenmäßige Abrechnung vielfach außerhalb des Steuerbescheids durch besonderen Kontoauszug erfolgt. Würde ein derartiger Bescheid dem Steuerpflichtigen aus besonderem Anlaß an Amtsstelle unter gleichzeitigem Rechtsmittelverzicht ausgehändigt, so könnte er sich nicht nachträglich darauf berufen, daß er sich bei Abgabe seiner Verzichtserklärung hinsichtlich der späteren Kassenabrechnung von falschen Vorstellungen habe leiten lassen. Ein derartiger Irrtum wäre als Irrtum im Beweggrund unbeachtlich.

Die gleiche Rechtslage ist gegeben, wenn der Rechtsmittelverzicht vor Erlaß des Steuerbescheids erfolgt, sofern den Erfordernissen im Sinne der Entscheidung des erkennenden Senats IV 524/52 U vom 30. Juli 1953 (a. a. O.) genügt ist. Danach muß das Finanzamt dem Steuerpflichtigen die maßgeblichen Besteuerungsgrundlagen und die sich hiernach nach dem Tarif ergebende bzw. festzusetzende Steuer bekanntgeben. Es handelt sich, wenn diesen Erfordernissen genügt ist, praktisch und im Ergebnis um eine vorweggenommene Steuerfestsetzung im Sinne des § 210 AO. Der Steuerpflichtige ist damit bei Abgabe seiner Verzichtserklärung bereits in die Lage versetzt, in der er sich befände, wenn ihm der Steuerbescheid selbst - mit oder ohne Kassenabrechnung - schon im Zeitpunkt des Rechtsmittelverzichts vorläge. Hieraus ergibt sich, daß es - entgegen der Auffassung des Bf. - für die Wirksamkeit des Rechtsmittelverzichts nicht darauf ankommen kann, welche Beträge von ihm nach kassenmäßiger Abrechnung noch zu zahlen oder welche Beträge ihm danach zu erstatten sein werden. Das Finanzamt braucht ihm diese Beträge im Zeitpunkt des Rechtsmittelverzichts nicht bekanntzugeben. Geschieht es, so hat dies nur nachrichtliche Bedeutung. Wenn der Senat in seiner Entscheidung vom 30. Juli 1953 ausgeführt hat, der Steuerpflichtige müsse wissen, "was er zu zahlen hat", so ist das nach der Gesamtheit der Urteilsgründe eindeutig dahin zu verstehen, daß ihm die nach dem Tarif festzusetzende Steuer bekannt sein muß. Wollten die Beteiligten den Rechtsmittelverzicht nach dem Betrag "aushandeln", der nach der kassenmäßigen Abrechnung noch "nachzuzahlen" oder zu "erstatten" sein wird, so wäre das ein unsachliches Verfahren, da mit dem Wesen des Steueranspruchs als eines öffentlich-rechtlichen Anspruchs unvereinbar wäre. Für den Steuerpflichtigen mögen überlegungen nach dieser Richtung ein Beweggrund sein. Geht er hierbei von falschen Berechnungen oder Erwartungen aus, so geht das zu seinen Lasten. Hiernach ergibt sich: Wenn der Bf. tatsächlich - was nach der Sachlage und nach der Aktenlage keineswegs unzweifelhaft ist - den Rechtsmittelverzicht auch für die Veranlagungszeiträume II/1948 bis 1954 nur deshalb erklärt hat, weil er im Zeitpunkt des Verzichts irrtümlich von der von ihm für 1955 erwarteten Erstattung ausgegangen ist, so ist dieser Irrtum als Irrtum im Beweggrund unbeachtlich.

Gegen die Wirksamkeit des für II/1948 bis 1954 erklärten Rechtsmittelverzichts bestehen im übrigen keine Bedenken. Der Bf. war sich im Zeitpunkt des Verzichts über die Höhe der tariflichen Steuer im klaren. Der Senat hält es allerdings für angezeigt, darauf hinzuweisen, daß es im Interesse der Verzichtsklarheit und zur Vermeidung von Einwendungen zweckmäßig wäre, wenn der vom Finanzamt verwendete Vordruck in dieser Hinsicht beispielsweise wie folgt umgestaltet würde:

Steuer (nach Berichtigung gemäß § 222 Abs. 1 Ziff. 1 AO) . . . . . . . . . .......... Entrichtete Steuer . . . . . . . . . . ........ Nachzahlung . . . . . . . . . . . . . ........ oder Steuer . . . . . . . . . . . . . . .......... Vorauszahlung . . . . . . . . . . . . . ....... Abschlußzahlung bzw. Erstattung . . . . .......

 

Fundstellen

Haufe-Index 409781

BStBl III 1960, 429

BFHE 1961, 480

BFHE 71, 480

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