Leitsatz (amtlich)

Dem Rechtsanwalt stehen im Vorabentscheidungsverfahren vor dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (Art. 177 EWGV) die gleichen Gebühren wie nach § 113 Abs. 2 Sätze 1 und 2 BRAGebO für Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht zu.

 

Normenkette

BRAGO §§ 2, 11 Abs. 1, §§ 13, 37, 113 Abs. 2, § 114; FGO § 139; EWGV Art. 177

 

Tatbestand

In einer Abschöpfungsstreitsache stellte der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EGH) in seinem auf den Vorlagebeschluß des BFH ergangenen Urteil vom 18. Februar 1970 Rs 40/69 (EGHE 1969, 69) hinsichtlich der Kosten fest, daß das Verfahren vor dem EGH für die Parteien des Ausgangsverfahrens ein Zwischenstreit in dem vor dem BFH anhängigen Rechtsstreit sei und die Kostenentscheidung diesem Gericht obliege. Der BFH legte dem Kostenschuldner, Erinnerungsgegner und Beschwerdegegner (HZA) die Kosten des Revisionsverfahrens auf, nachdem das HZA die Revision zurückgenommen hatte. Durch einen weiteren Beschluß vom 21. Juli 1970 VII R 44/67 stellte der BFH auf Antrag der Kostengläubigerin, Erinnerungsführerin und Beschwerdeführerin (Beschwerdeführerin) ergänzend fest, daß zu den Kosten des Revisionsverfahrens auch die Kosten des Zwischenstreites vor dem EGH gehören. Im Kostenfestsetzungsbeschluß erkannte der Urkundsbeamte des FG für das Verfahren vor dem EGH eine 13/10-Verhandlungsgebühr sowie die Porto- und Reisekosten als erstattungsfähig an, setzte aber die beantragte Prozeßgebühr ab, weil Revisionsverfahren und Vorlageverfahren kostenrechtlich ein Verfahren bildeten.

Das FG gab der Erinnerung nicht statt, ließ aber die Beschwerde wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Sache zu.

Mit der Beschwerde macht die Beschwerdeführerin geltend, daß das Verfahren vor dem EGH selbständig sei. Die Bestimmung im Tenor der Vorabentscheidung des EGH, daß die Kostenentscheidung dem vorlegenden Gericht vorbehalten bleibe, betreffe nur die Kostenverteilung, nicht aber das Ausmaß der erstattungsfähigen Kosten. Da sich in der Bundesgebührenordnung für Rechtsanwälte (BRAGebO) keine Regelung über die Gebühren des Anwalts im Verfahren vor dem EGH finde, seien die Gebühren nach § 2 BRAGebO in sinngemäßer Anwendung der übrigen Vorschriften zu bemessen. Das Vorlageverfahren sei als selbständiger Rechtszug ausgestaltet und könne nicht mehr als Zwischenstreit angesehen werden. Für das Vorlageverfahren nach Art. 100 GG bestimme § 113 Abs. 2 BRAGebO, daß die Vorschriften des dritten Abschnittes der BRAGebO sinngemäß gelten sollen, daß also das Verfahren als "besonderer Rechtszug" zu werten sei. Auch der BFH habe in dem Beschluß vom 29. Oktober 1968 VII B 106/67 (BFHE 94, 49, BStBl II 1969, 83) auf die Ähnlichkeit zwischen dem Verfahren nach Art. 177 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWGV) und dem Verfahren nach Art. 100 GG hingewiesen.

Nach Ansicht des HZA stellt das Vorabentscheidungsverfahren keinen selbständigen Rechtszug dar, weil es nicht in der FGO geregelt sei. Daß das Vorlageverfahren wie ein selbständiger Rechtszug ausgestaltet sei, ändere nichts daran, daß es jeweils nur einen Abschnitt in den Rechtszügen im Sinn der §§ 35 bis 37 FGO darstelle und kostenrechtlich das Schicksal dieser Rechtszüge teile.

Auf die Vorlage des Senats hat der EGH mit Urteil vom 1. März 1973 Rs. 62/72 entschieden, daß sich Art. 103 § 1 der Verfahrensordnung des EGH nicht auf das Kostenfestsetzungsverfahren und die Erstattungsfähigkeit von Aufwendungen der Parteien des Ausgangsverfahrens beziehe, die für das Vorabentscheidungsverfahren des Art. 177 EWGV notwendig waren, und daß sich die Festsetzung und die Erstattungsfähigkeit dieser Kosten nach den nationalen Vorschriften bestimmen.

 

Entscheidungsgründe

Die Beschwerde hat Erfolg.

Die von der Beschwerdeführerin für das Verfahren vor dem EGH beanspruchte Prozeßgebühr steht ihrem Bevollmächtigten nur dann zu, wenn dieses Verfahren als besonderer Rechtszug im Sinn des § 13 Abs. 2 Satz 2 BRAGebO angesehen werden kann. Denn der Rechtsanwalt kann die Gebühren in derselben Angelegenheit nur einmal fordern (§ 13 Abs. 2 Satz 1 i. V. mit § 114 BRAGebO und § 139 FGO). Zum Rechtszug gehören nach § 37 Nr. 3 BRAGebO auch Zwischenstreite. Als ein solcher ist zwar das Verfahren vor dem EGH sowohl in den Urteilen des EGH Rs. 40/69 und Rs. 62/72 als auch im Beschluß des erkennenden Senats VII R 44/67 bezeichnet worden. Die in § 37 Nr. 3 BRAGebO angeführten Zwischenstreite betreffen aber nur solche, die vor demselben Gericht ausgetragen werden, wie die Zulassung der Nebenintervention (§ 71 ZPO), der Zwischenstreit mit Zeugen und Sachverständigen über die Rechtmäßigkeit der Verweigerung des Zeugnisses oder Gutachtens (§§ 387, 402, 408 ZPO; siehe Riedel-Corves-Sußbauer, Bundesgebührenordnung für Rechtsanwälte, Anm. 13 zu § 37; Gerold-Schmidt, Bundesgebührenordnung für Rechtsanwälte, Anm. 7 zu § 37). Dagegen ist z. B. das Normenkontrollverfahren vor dem BVerfG gebührenrechtlich eine selbständige Angelegenheit, auch wenn es der Erledigung eines anderweitig anhängigen Rechtsstreits dient. Denn nach § 113 Abs. 2 BRAGebO sind für dieses Verfahren Rechtsanwaltsgebühren, also auch die Prozeßgebühr nach § 11 Abs. 1 i. V. mit § 31 Nr. 1 BRAGebO, aus dem vom BVerfG selbständig nach § 10 BRAGebO festzusetzenden Gegenstandswert bestimmt. Nach allgemeiner Meinung ist die Auffassung des BVerfG im Beschluß vom 23. Juli 1957 1 BvL 126/52 (BVerfGE 7, 87), das Normenkontrollverfahren sei kostenrechtlich als Abschnitt des Ausgangsverfahrens zu betrachten, für den Rechtszustand nach dem Gesetz zur Änderung und Ergänzung kostenrechtlicher Vorschriften vom 26. Juli 1957 (BGBl I 1957, 861) als überholt anzusehen (siehe Riedel-Corves-Sußbauer, a. a. O., Anm. 8 zu § 113; Gerold-Schmidt, a. a. O., Anm. 4 zu § 113).

Auch das Verfahren gemäß Art. 177 EWGV vor dem EGH ist ein Verfahren vor einem anderen als dem zur Entscheidung in der Streitsache zuständigen Gericht und kann daher schon deshalb nicht als Zwischenstreit im Sinn des § 37 Nr. 3 BRAGebO angesehen werden. Ebenso wie im Normenkontrollverfahren vor dem BVerfG treten die Parteien des Ausgangsstreites nicht als Parteien dieses "Zwischenverfahrens" auf, sondern haben lediglich die Möglichkeit, sich in dem vom EGH abgesteckten rechtlichen Rahmen zu äußern (siehe EGH-Entscheidung Rs. 62/72; Art. 20 der Satzung des EGH und § 82 Abs. 3 des BVerfGG). Daraus ergibt sich aber die Folgerung, daß es sich um ein selbständiges "objektiviertes" Verfahren handelt. Wie der EGH wiederholt entschieden hat, geht Art. 177 EWGV von einer klaren Trennung der Aufgaben der staatlichen Gerichte und des EGH aus und ermächtigt den EGH weder zur Entscheidung über den konkreten Fall noch zur Nachprüfung der Gründe und Ziele des Auslegungsersuchens (vgl. zweiter Leitsatz des Urteils vom 15. Juli 1964 Rs. 6/64, EGHE 1964, 1251; Schneider, NJW 1972, 1596). Der EGH entscheidet über die ihm vorgelegte Frage durch Urteil, an das das vorlegende Gericht gebunden ist. Diese Bindung hat ihren Grund in der besonderen Zuständigkeit des EGH nach Art. 169 ff. EWGV. Die richtige Anwendung des Gemeinschaftsrechts wird vom EGH lediglich integrierend im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens kontrolliert (s. Schwarz-Wockenfoth, Kommentar zum Zollgesetz, Einleitung V, Anm. 121). Dieses Verfahren bestimmt sich aber nach den dafür erlassenen Vorschriften des Gemeinschaftsrechts, insbesondere nach der Satzung und Verfahrensordnung des EGH. Seine Entscheidung soll die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung des EWGV sichern (Art. 164). Wenn diese auch nicht für andere Gerichte als das vorlegende Gericht bindend ist, so gibt sie dennoch eine authentische Interpretation einer Vorschrift des Gemeinschaftsrechts, die eine andere Auslegung nur auf dem Wege über eine erneute Vorabentscheidung zuläßt, weil die nationalen letztinstanzlichen Gerichte nach Art. 177 Abs. 3 EWGV verpflichtet sind, derartige Zweifelsfragen dem EGH vorzulegen. Deshalb kommt dessen Vorabentscheidungen eine über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung zu.

Gebühren für dieses Verfahren sind in der BRAGebO nicht vorgesehen; während sich in ihr eine Regelung für die Verfahren vor dem BVerfG findet (113 BRAGebO). Diese Gesetzeslücke kann daher nicht anders als durch analoge Anwendung der Gebührenvorschriften für ein gleichartiges Verfahren geschlossen werden (§ 2 BRAGebO). Hierzu bietet sich das bereits erwähnte Normenkontrollverfahren vor dem BVerfG an. Ebenso wie das BVerfG entscheidet der EGH nur über die Rechtsfrage (§ 81 BVerfGG, Art. 177 EWGV). Die Beteiligten des Ausgangsstreits erhalten lediglich Gelegenheit zur Äußerung, ohne selbst als Parteien aufzutreten (§ 82 Abs. 3 BVerfGG, Art. 20 der Satzung des EGH). Sie werden zur mündlichen Verhandlung geladen und werden dort angehört (§ 82 Abs. 3 BVerfGG, Art. 18 Abs. 4 der Satzung des EGH). Die Vorbereitung hierzu (Schriftsätze) und die Teilnahme an der mündlichen Verhandlung stellen an den Rechtsanwalt erhöhte Anforderungen. Allerdings sind auch gewisse Unterschiede zwischen beiden Verfahren nicht zu übersehen. So überwacht der EGH nicht wie das BVerfG Form und Inhalt der Vorlage. Das vorlegende nationale Gericht muß nicht wie nach Art. 100 Abs. 1 GG das in Betracht kommende Gesetz für verfassungswidrig halten, sondern hat gemäß Art. 177 EWGV schon bei bestehenden Zweifeln über die Auslegung des Vertrags oder über die Gültigkeit und die Auslegung von Handlungen der EWG-Organe eine Vorabentscheidung des EGH einzuholen. Diese Unterschiede sind jedoch nach Auffassung des Senats nicht so erheblich, daß sie einer Gleichbehandlung hinsichtlich der Gebühren im Wege stünden. Demnach war im Streitfall die Vorentscheidung aufzuheben und der Beschwerdeführerin in sinngemäßer Anwendung des § 113 Abs. 2 Sätze 1 und 2 BRAGebO i. V. mit § 11 Abs. 1 Satz 2, § 13 Abs. 2 und § 31 Nr. 1 BRAGebO eine 13/10-Prozeßgebühr zuzubilligen.

 

Fundstellen

Haufe-Index 70647

BStBl II 1974, 222

BFHE 1974, 462

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