Entscheidungsstichwort (Thema)

Keine Aussetzung der Vollziehung bei behaupteter Verfassungswidrigkeit der Kinderfreibeträge und der Sonderausgabenhöchstbeträge für Vorsorgeaufwendungen

 

Leitsatz (NV)

Im Vollziehungsaussetzungsverfahren kann es dahinstehen, ob die in den Jahren 1989 bis 1991 geltenden Kinderfreibeträge (§ 32 Abs. 6 EStG) und Sonderausgabenhöchstbeträge für Vorsorgeaufwendungen (§ 10 Abs. 3 EStG) unzureichend und daher verfassungswidrig sind. Die Vollziehung darauf beruhender Einkommensteuerbescheide ist nicht auszusetzen, weil in diesen Fällen das öffentliche Interesse an einer geordneten Haushaltsführung ausnahmsweise höher zu bewerten ist als das Interesse des Antragstellers an der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes.

 

Normenkette

EStG § 10 Abs. 3, § 32 Abs. 6; FGO § 69

 

Verfahrensgang

Niedersächsisches FG

 

Tatbestand

Die Antragsteller und Beschwerdeführer (Antragsteller) sind Eheleute, die zusammen zur Einkommensteuer veranlagt werden. Der Antragsteller bezieht Einkünfte aus selbständiger Arbeit als Rechtsanwalt. Die Antragsteller haben zwei gemeinsame (1989 und 1991 geborene) Töchter. In ihrem Haushalt lebt außerdem die (1981 geborene) Tochter der Antragstellerin aus erster Ehe.

In den Einkommensteuererklärungen 1989 bis 1991 machten die Antragsteller Vorsorgeaufwendungen (1989: 18 696 DM; 1990: 21 163 DM, 1991: 23 229 DM) als Sonderausgaben geltend. Der Antragsgegner und Beschwerdegegner (das Finanzamt -- FA --) ließ die Vorsorgeaufwendungen mit den Sonderausgabenhöchstbeträgen nach § 10 Abs. 3 des Einkommensteuergesetzes (EStG) zum Abzug zu (1989: 13 020 DM, 1990 und 1991: 15 020 DM). Kinderfreibeträge berücksichtigte das FA mit den in § 32 Abs. 6 EStG vorgeschriebenen Beträgen (1989: 2 484 DM + 1 242 DM, 1990: 3 024 DM + 1 512 DM, 1991: 3 x 3 024 DM).

Mit ihren Einsprüchen gegen die Einkommensteuerbescheide 1989 bis 1991 rügten die Antragsteller die Verfassungswidrigkeit der Sonderausgabenhöchstbeträge und der Kinderfreibeträge. Das FA wies die Einsprüche als unbegründet zurück, den Anträgen auf Aussetzung der Vollziehung entsprach es nicht.

Das Finanzgericht (FG) wies die Anträge auf Aussetzung der Vollziehung als unbegründet zurück. Es führte zur Begründung aus: Bei der im Aussetzungsverfahren gebotenen summarischen Prüfung seien sowohl die Beschränkung des Sonderausgabenabzugs als auch die Kinderfreibeträge ver fassungsgemäß. Eine Begründung dieser Rechtsauffassung erübrige sich, weil es im Streitfall auch an dem berechtigten Inter esse an einer Aussetzung der Vollziehung fehle.

Mit der Beschwerde tragen die Antragsteller vor: Die Einkommensteuerfestsetzungen verstießen gegen verfassungsrechtliche Grundsätze, weil die Kinderfreibeträge und die Kindergeldzahlungen in den Jahren 1989 bis 1991 nicht ausgereicht hätten, das Existenzminimum der Kinder von der Einkommensteuer freizustellen. Ferner sei es verfassungswidrig, Steuerpflichtigen mit Kindern den Abzug der Vorsorgeaufwendungen nur im Rahmen derselben Höchstbeträge zu gestatten, die Steuerpflichtigen ohne Kinder zugebilligt würden. Dies gelte zumindest dann, wenn Steuerpflichtige mit Kindern nicht sozialversichert seien und den vollen Vorsorgebedarf der Familie privat absichern müßten. Wegen der erheblichen verfassungsrechtlichen Zweifel sei ein berechtigtes Interesse für eine teilweise Aussetzung der Vollziehung der Einkommensteuerbescheide 1989 bis 1991 gegeben. Zwar habe das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) unter Berufung auf das Interesse an einer geordneten und zuverlässigen staatlichen Haushaltsführung eine rückwirkende Änderung des verfassungswidrigen Grundfreibetrags nicht für erforderlich gehalten. Jedoch sei der Grundfreibetrag, bei dem es lediglich um die vertikale Steuergerechtigkeit gehe, mit den Kinderfreibeträgen und Sonderausgabenhöchstbeträgen nicht vergleichbar, da bei diesen das Prinzip der horizontalen Steuergerechtigkeit zu beachten sei, welches zusätzliche verfassungsrechtliche Anforderungen an die steuerlichen Regelungen stelle.

 

Entscheidungsgründe

Die Beschwerde ist unbegründet.

Zu Recht hat das FG ein berechtigtes Interesse der Antragsteller an einer Aussetzung der Vollziehung der Einkommensteuerbescheide 1989 bis 1991 verneint.

1. Begehrt der Steuerpflichtige Aussetzung der Vollziehung mit der Begründung, die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Steuerbescheids sei ernstlich zweifelhaft, weil einzelne angewendete Vorschriften verfassungswidrig seien, ist nach ständiger -- durch das BVerfG bestätigter -- Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) ein berechtigtes Interesse an der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes erforderlich (z. B. BFH-Beschlüsse vom 6. November 1987 III B 101/86, BFHE 151, 428, BStBl II 1988, 134; vom 2. August 1988 III B 12/88, BFHE 154, 123; vom 20. Juli 1990 III B 144/89, BFHE 162, 542, BStBl II 1991, 104; vom 25. Juli 1991 III B 555/90, BFHE 164, 570, BStBl II 1991, 876; BVerfG-Beschlüsse vom 6. April 1988 1 BvR 146/88, Steuerrechtsprechung in Karteiform -- StRK --, Finanzgerichtsordnung, § 69, Rechtsspruch 283; vom 3. April 1992 2 BvR 283/92, StRK, Finanzgerichtsordnung, § 69 Rechtsspruch 298, jeweils m. w. N.). Bei der Entscheidung über den Antrag auf Aussetzung der Vollziehung sind der Anspruch des Bürgers auf Rechtsschutz und die öffentlichen Belange gegeneinander abzuwägen.

Zutreffend hat das FG im Streitfall das öffentliche Interesse an einer geordneten Haushaltsführung höher bewertet als das Interesse der Antragsteller, allein aufgrund von Zweifeln an der Verfassungsmäßigkeit eines formell verfassungsmäßig zustande gekommenen Gesetzes vorläufigen Rechtsschutz zu erreichen. Die Fragen, ob die geltenden Sonderausgabenhöchstbeträge und Kinderfreibeträge verfassungswidrig sind, betreffen eine Vielzahl von Steuerpflichtigen. Würde die Vollziehung der Einkommensteuerbescheide jeweils aufgrund der verfassungsrechtlichen Zweifel ausgesetzt, würde dies zumindest zeitweise in den öffentlichen Haushalten zu Einnahmeausfällen in erheblicher Höhe führen. Nach Auffassung des BVerfG (StRK, Finanzgerichtsordnung, § 69, Rechtsspruch 283) ist "das öffentliche Interesse an einer geordneten öffentlichen Haushaltswirtschaft" so gewichtig, daß das Interesse der Steuerpflichtigen an einer teilweisen Aussetzung der Vollziehung der Einkommensteuerbescheide dahinter zurückzustehen hat. Vorschriften, deren Verfassungsmäßigkeit in Zweifel gezogen werden, sind solange gültig, bis das BVerfG ihre Verfassungswidrigkeit festgestellt hat. Der Individualanspruch auf vorläufigen Rechtsschutz hätte nur dann Vorrang vor "dem rechtsstaatlichen Anliegen eines allgemeinen Normenvollzugs", wenn durch die vorläufige Vollziehung "irreparable Nachteile" drohten (BVerfG, StRK, Finanzgerichtsordnung, § 69, Rechtsspruch 298) oder wenn das zu versteuernde Einkommen abzüglich der darauf zu entrichtenden Steuer unter dem sozialhilferechtlich garantierten Existenzminimum läge (BFHE 164, 570, BStBl II 1991, 876). Beides ist hier nicht der Fall.

 

Fundstellen

Haufe-Index 420182

BFH/NV 1995, 143

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