Entscheidungsstichwort (Thema)

Endgültige, entschädigungslose Stillegung eines Teils der Anlieferungsreferenzmenge Milch (Vorlage an EuGH)

 

Leitsatz (NV)

Ist die Regelung in Art. 4 Abs. 1 i. V. m. Art. 3 Abs. 1 VO Nr. 3950/92 mit der Gemeinschaftsrechtsordnung, insbesondere der Eigentumsgarantie, dem Gleichbehandlungs- und dem Vertrauenschutzgrundsatz vereinbar, durch welche die aufgrund des Art. 5 c Abs. 3 Buchst. g der VO (EWG) Nr. 804/68 i. d. F. der VO (EWG) Nr. 816/92 vorzunehmenden Aussetzungen eines Teils der den Erzeugern zugeteilten Referenzmengen entschädigungslos in eine dauerhafte Kürzung der Referenzmengen umgewandelt worden sind, ohne wenigstens vom Erzeuger hinzuerworbene Referenzmengen von der Kürzung auszunehmen?

 

Normenkette

EGVtr Art. 177 Abs. 1 Buchst. b, Abs. 3; EWGV 3950/92 Art. 4; MGV Art. 4 Abs. 1

 

Tatbestand

Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) ist als Landwirt Milcherzeuger. Die Molkerei (Käuferin), an die er die Milch lieferte, kürzte ihm zum 1. April 1993 die bisherige Anlieferungsreferenzmenge (ARM) von ... kg Milch um 4,74 % auf ... kg Milch bei einem unveränderten Fettgehalt von 3,86 %. Dabei handelte es sich erstmalig um eine endgültige, entschädigungslose Kürzung der Milchquote um den bisher ausgesetzten Teil. Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Hauptzollamt -- HZA --), bestätigte die Neuberechnung der ARM durch die Käuferin. Die dagegen erhobene Klage hatte keinen Erfolg.

Mit seiner Revision rügt der Kläger die Verletzung seiner Grundrechte auf Eigentumsgarantie, Gleichbehandlung und auf Vertrauensschutz. Die genannten Grundrechte seien nicht nur durch das Grundgesetz, sondern auch durch die europäische Rechtsordnung geschützt.

 

Entscheidungsgründe

Der Senat hält es für erforderlich, eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) einzuholen, weil Zweifel an der Gültigkeit der Regelung in Art. 4 Abs. 1 i. V. m. Art. 3 Abs. 1 der Verordnung (EWG) Nr. 3950/92 (VO Nr. 3950/92) des Rates vom 28. Dezember 1992 über die Erhebung einer Zusatzabgabe im Milchsektor (Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften -- ABlEG -- Nr. L 405/1) bestehen (Art. 177 Abs. 1 Buchst. b i. V. m. Art. 177 Abs. 3 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft -- EGV --).

1. Die angefochtene Kürzung der ARM des Klägers beruht auf Art. 4 Abs. 1 VO Nr. 3950/92 i. V. m. § 4 Abs. 1 der Milch- Garantiemengen-Verordnung (MGV) i. d. F. der 27. Änderungsverordnung vom 24. März 1993 (BGBl I 1993, 374). Art. 4 Abs. 1 VO Nr. 3950/92 schreibt vor, daß die einzelbetriebliche Referenzmenge der am 31. März 1993 zur Verfügung stehenden Menge entspricht, die gegebenenfalls für jeden der betreffenden Zeiträume angepaßt wird, damit die Summe der einzelbetrieblichen Referenzmengen gleicher Art die entsprechende Gesamtmengen, die für jeden Mitgliedstaat festzusetzen sind (Art. 3 VO Nr. 3950/92), nicht überschreitet. Demgemäß bestimmt § 4 Abs. 1 MGV i. d. F. der 27. Änderungsverordnung, daß die ARM mit Beginn des 1. April 1993 der dem Milcherzeuger mit Ablauf des 31. März 1993 zustehenden Referenzmenge, abzüglich des nach den bisherigen Vorschriften ausgesetzten Teils der Referenzmenge, entspricht. Nur diese Menge stand wegen der in Art. 3 Abs. 1 VO Nr. 3950/92 getroffenen Regelung tatsächlich zur abgabenfreien Lieferung durch den Erzeuger an den Käufer zur Verfügung. Nach § 4 b Abs. 6 MGV i. d. F. der 24. Änderungsverordnung vom 2. April 1992 (BGBl I 1992, 845) sind vom 1. April 1992 an 4,74 % von jeder zugeteilten Referenzmenge ausgesetzt worden. Die dem Kläger am 1. April 1993 zuzuteilende ARM entsprach daher seiner bisherigen ARM abzüglich 4,74 %.

Mit der Aussetzung eines Teils der Referenzmenge in Höhe von 4,74 % der ARM durch § 4 b Abs. 6 MGV i. d. F. der 24. Änderungsverordnung trug der nationale Verordnungsgeber dem Umstand Rechnung, daß nach Art. 5 c Abs. 3 Buchst. g der Verordnung (EWG) Nr. 804/68 i. d. F. der Verordnung (EWG) Nr. 816/92 des Rates vom 31. März 1992 (ABlEG Nr. L 86/83) die aufgrund der Verordnung (EWG) Nr. 775/87 (VO Nr. 775/87) des Rates vom 16. März 1987 (ABlEG Nr. L 78/5), zuletzt geändert durch die Verordnung (EWG) Nr. 3643/90 (ABlEG Nr. L 362/9), ausgesetzten Referenzmengen bei der Festsetzung der Gesamtgarantiemengen für die einzelnen Mitgliedstaaten nicht mehr berücksichtigt worden sind.

Die noch in der VO Nr. 775/87 enthaltene Vergütungsregelung für den ausgesetzten Teil der ARM war in der VO Nr. 816/92 nicht mehr vorgesehen. Desgleichen enthält auch die VO Nr. 3950/92 keine Vergütungsregelung für den Teil der bisherigen ARM, um den die ARM infolge von Art. 4 der Verordnung endgültig verringert wird.

2. Wegen der entschädigungslosen Kürzung der Milchreferenzmenge hält der Kläger sein auch gemeinschaftsrechtlich geschütztes Eigentumsrecht für verletzt. Die Milchreferenzmenge habe nämlich inzwischen einen eigentumsähnlichen Charakter erhalten und unterfalle daher dem Schutz des Eigentums. Dies ergebe sich allein aus der Tatsache, daß nach Art. 8 VO Nr. 3950/92 die Milchquoten inzwischen auch ohne Flächenbindung frei handelbar seien. Er, der Kläger, habe in der Zeit von 1990 bis 1993 Milchquoten von insgesamt 67 000 kg zu einem Preis von 1,60 DM/kg aufgrund von Landeszuweisungen erworben, die ebenfalls entschädigungslos um 4,74 % gekürzt worden seien. Der Eingriff in das Eigentum des Klägers sei nicht als Inhalts- und Schrankenbestimmung des Eigentums gerechtfertigt. Außerdem greife die Kürzung der ARM auch in die eigentumsrechtlich verfestigte Rechtsposition des Milcherzeugers aus wohlerworbenem Recht und die Garantie seines landwirtschaftlichen Einkommens aus Art. 39 und Art. 40 EGV ein. Eine solche Rechtsposition habe die Gemeinschaft den Milcherzeugern durch ständige Übung aufgrund der seit 1987 erfolgten Aussetzung gegen Vergütung eingeräumt. Der Garantie eines landwirtschaftlichen Einkommens zur Gewährung einer angemessenen Lebenshaltung diene die gemeinschaftsrechtliche Marktorganisation für Milch- und Milcherzeugnisse. Durch die Kürzung der Referenzmenge werde dem Erzeuger eine Rechtsposition entzogen.

Eine Verletzung des Gleichheitssatzes sieht der Kläger darin, daß sich Milcherzeuger, die einen Teil ihrer Erzeugung infolge der vorgenommenen, entschädigungslosen Kürzung aufgeben müßten, finanziell schlechter stellen als solche, die ihre Milchproduktion gegen eine Entschädigung vollständig aufgrund von Gemeinschaftsrecht einstellen.

Schließlich sei die Regelung auch wegen Verstoßes gegen den Vertrauensschutzgrundsatz rechtswidrig. Dieses Vertrauen habe die Gemeinschaft dadurch begründet, daß aus der bis 1992 vorläufigen Aussetzung habe geschlossen werden können, daß sie nur vorübergehend sei und daß die Aussetzung ebenso wie die Stillegung nach ständiger Übung bis zu der für rechtswidrig gehaltenen anderweitigen Regelung nur gegen Vergütungszahlungen erfolgt sei.

3. Wie der EuGH ausgeführt hat, kann die Frage einer etwaigen Rechtsverletzung durch eine Handlung der Gemeinschaftsorgane (hier des Rates) nur im Rahmen des Gemeinschaftsrechts selbst beurteilt werden. Zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen, die der EuGH zu wahren hat, gehören die Grundrechte. Der EuGH hat diese u. a. gemäß den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten zu wahren (vgl. EuGH-Urteile vom 26. Juni 1980 Rs. 136/79, EuGHE 1980, 2033, und vom 19. Juni 1980 verb. Rsn. 41, 121 und 796/79, EuGHE 1980, 1979, 1996). Zu den danach zu wahrenden Grundrechten gehört sowohl das Eigentumsrecht (vgl. EuGH in EuGHE 1980, 2033) als auch der Gleichbehandlungsgrundsatz bzw. das sich daraus ergebende Diskriminierungsverbot, wie es insbesondere auch in Art. 40 Abs. 3 EGV zum Ausdruck kommt. Ebenso gehört der Grundsatz des Vertrauensschutzes zu den tragenden Grundsätzen der Gemeinschaft (vgl. EuGH-Urteil vom 5. Oktober 1994 verb. Rsn. C-133/93, C-300/93 und C-362/93, EuGHE 1994, I-4863).

Das Finanzgericht hat mit beachtlichen Gründen ausgeführt, daß der Kläger durch die Kürzung seiner ARM aufgrund von § 4 Abs. 1 MGV i. d. F. der 27. Änderungverordnung zur MGV, einer Vorschrift, die in Anwendung des einschlägigen Gemeinschaftsrechts (Art. 4 Abs. 1 i. V. m. Art. 3 Abs. 1 VO Nr. 3950/92) ergangen ist, nicht in seinen Rechten verletzt worden sei. Durch die entschädigungslose Kürzung der ARM sei der Kläger nicht in seinen Grundrechten verletzt, insbesondere könne darin keine enteignende Maßnahme gesehen werden. Auch liege keine Benachteiligung der von der Kürzung betroffenen Milcherzeuger im Gegensatz zu jenen vor, die bereits gegen Entschädigung die Milchproduktion in der Vergangenheit aufgegeben hätten. Der Kläger könne sich auch nicht auf einen Vertrauenstatbestand berufen, nach dem auch weiterhin die Kürzung der ARM nur gegen Entschädigung zu erwarten sei. Ein solcher bestehe auch nicht deswegen, weil sich die ARM des Klägers durch Zukauf von Quoten mit Hilfe von Land und Europäischer Gemeinschaft (EG) um 67 000 kg Milch erhöht habe. Zum Zeitpunkt des Zukaufs der Quoten habe nicht festgestanden, welche marktregulierenden Maßnahmen die EG im Milchsektor zukünftig ergreifen würde.

Hinzuweisen ist insbesondere auch auf die Entscheidungsgründe des Urteils des Gerichts 1. Instanz der Europäischen Gemeinschaften vom 13. Juli 1995 verb. Rsn. T-466/93, T-474/93 und T-477/93 (EuGHE 1995 II-2071), die, auf den Streitfall übertragen, die Vorentscheidung stützen könnten.

4. Im Hinblick darauf, daß der High Court of Ireland den EuGH bereits -- in einem möglicherweise ähnlichen Fall angerufen und ihm -- Fragen zur Gültigkeit des auch im Streitfall durch seine in Art. 4 Abs. 1 VO Nr. 3950/92 erfolgte Inbezugnahme entscheidungserheblichen Art. 3 VO Nr. 3950/92 sowie der ihm vorausgehenden Bestimmungen vorgelegt hat (Rs. C-22/94, ABlEG Nr. C 76/11), über die noch nicht entschieden worden ist, sind jedoch nach Auffassung des Senats Zweifel an der Gültigkeit des Art. 4 Abs. 1 i. V. m. Art. 3 Abs. 1 VO Nr. 3950/92 nicht auszuschließen, so daß er sich zur Anrufung des EuGH verpflichtet sieht.

5. Dem EuGH wird deshalb gemäß Art. 177 Abs. 1 Buchst. b und Art. 177 Abs. 3 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt: Ist die Regelung in Art. 4 Abs. 1 i. V. m. Art. 3 Abs. 1 VO (EWG) Nr. 3950/92 mit der Gemeinschaftsrechtsordnung, insbesondere der Eigentumsgarantie, dem Gleichbehandlungs- und dem Vertrauensschutzgrundsatz vereinbar, durch welche die aufgrund des Art. 5 c Abs. 3 Buchst. g der VO (EWG) Nr. 804/68 i. d. F. der VO (EWG) Nr. 816/92 vorzunehmenden Aussetzungen eines Teils der den Erzeugern zugeteilten Referenzmengen entschädigungslos in eine dauerhafte Kürzung der Referenzmenge umgewandelt worden sind, ohne wenigstens vom Erzeuger hinzuerworbene Referenzmengen von der Kürzung auszunehmen?

 

Fundstellen

BFH/NV 1996, 719

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