Leitsatz (amtlich)

Die Aussetzung der Vollziehung eines Einkommensteuerbescheids kann auch hinsichtlich des Steuerbetrags angeordnet werden, der auf festgesetzte fällige, aber nicht entrichtete Vorauszahlungen entfällt.

 

Normenkette

FGO § 69 Abs. 3; EStG 1975/77 § 36 Abs. 2 Nr. 1; EStG 1975/77 § 36 Abs. 4; EStG 1974 § 47 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2

 

Verfahrensgang

FG Düsseldorf

 

Tatbestand

Die Antragsteller und Beschwerdegegner (Antragsteller), die zusammen zur Einkommensteuer veranlagt werden, unterzeichneten am 3. August 1977 einen Treuhandvertrag über die Errichtung eines Einfamilienhauses. Sie machen für 1977 vorab entstandene Werbungskosten in Höhe von 74 258 DM geltend. Am 5. September 1977 beantragten sie Herabsetzung der Vorauszahlungen III und IV/1977. Diesen Antrag hat der Antragsgegner und Beschwerdeführer (das Finanzamt - FA -) bisher nicht beschieden. Die Antragsteller entrichteten auf die festgesetzten Vorauszahlungen III und IV/1977 von je 27 750 DM lediglich je 4 700 DM.

Die Antragsteller machten in der Einkommensteuererklärung 1977 einen Verlust aus Vermietung und Verpachtung von 74 258 DM geltend. Das FA erkannte in dem Bescheid vom 6. Februar 1979 diesen Verlust nicht an. Der Bescheid enthielt folgende Besteuerungsmerkmale:

Einkommensteuerschuld 107 108,- DM

Vorauszahlungssoll 106 059,88 DM

Abschlußsoll 1 048,12 DM

Entrichtet sind auf das Vorauszahlungssoll 59 959,88 DM

und auf das Abschlußsoll 0,- DM

Mithin sind sofort zu entrichten 46 100,- DM

und spätestens am 9. März 1979 1 048,12 DM

Die Antragsteller legten Einspruch ein, über den das FA bisher nicht entschieden hat. Dem Antrag, die Vollziehung des Bescheids in Höhe von 42 212 DM Einkommensteuer auszusetzen, entsprach das FA nur hinsichtlich des sog. Abschlußsolls.

Die Antragsteller wandten sich nunmehr gemäß § 69 Abs. 3 der Finanzgerichtsordnung (FGO) an das Finanzgericht (FG), das ihrem Antrag stattgab (Beschluß des FG Düsseldorf vom 22. Januar 1980 II 215/79 A, veröffentlicht in Entscheidungen der Finanzgerichte 1980 S. 291 - EFG 1980, 291 -). Das FG führte im wesentlichen aus: Der Antrag sei zulässig. Vollziehungsaussetzungsfähig sei nicht nur der Unterschied der festgesetzten Steuer laut Einkommensteuerbescheid zu den festgesetzten Vorauszahlungen (sog. Abschlußsoll), sondern auch der Unterschied der festgesetzten Steuer zu den tatsächlich entrichteten Vorauszahlungen. Gegenstand der Abschlußzahlung seien, wie sich aus § 36 Abs. 2 Nr. 1, Abs. 4 des Einkommensteuergesetzes (EStG) 1975/77 ergebe, auch die nicht entrichteten Vorauszahlungen. Der Vorauszahlungsbescheid sei nicht mehr vollziehbar. Der Antrag sei auch begründet. Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Einkommensteuerbescheids bestünden bereits deswegen, weil die Antragsteller zahlreiche Unterlagen vorgelegt hätten, die im summarischen Verfahren nicht überprüft werden könnten.

Das FA macht mit der Beschwerde geltend: Das FG habe die Bedeutung des § 36 Abs. 4 EStG 1975/77 verkannt. Diese Vorschrift besage nicht, daß rückständige Vorauszahlungen mit Erteilung des Jahressteuerbescheids fällig würden. Es verbleibe bei den bisherigen Fälligkeiten, nach denen sich auch die Anforderung von Säumniszuschlägen bestimme. Der Vorauszahlungsbescheid sei weiterhin vollziehbar, soweit die in ihm angeforderten Vorauszahlungen nicht entrichtet worden seien. Die Vollziehbarkeit entfalle lediglich, soweit die festgesetzte Jahressteuer niedriger sei als die Summe der festgesetzten Vorauszahlungen. Mit der Vollziehungsaussetzung könne nicht mehr als die Wiederherstellung des Zustands vor Erlaß des angegriffenen Bescheids erreicht werden. Würde der Jahressteuerbescheid hinweggedacht, könne die Zahlung nicht vermieden werden. § 69 FGO müsse so ausgelegt werden, daß auch die Interessen des Staates an einer zeitgerechten Vereinnahmung der Steuern gewahrt würden. Unerheblich sei, daß über den Antrag auf Herabsetzung der Vorauszahlungen bisher nicht entschieden worden sei; denn auch in diesem Verfahren wäre eine Vollziehungsaussetzung nicht möglich.

Das FA beantragt, den Beschluß des FG aufzuheben.

Die Antragsteller beantragen, die Beschwerde zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

Die Beschwerde ist teilweise unzulässig, im übrigen im wesentlichen unbegründet.

1. Das FA wendet sich "gegen die Aussetzung der Vollziehung der mit dem Einkommensteuerbescheid für 1977 vom 6. Februar 1979 festgesetzten und noch nicht entrichteten Einkommensteuer- und Kirchensteuer-Vorauszahlungen III und IV/1977 in Höhe von insgesamt 46 100 DM bzw. 4 152 DM". Das FG hat "die Vollziehung des Einkommensteuerbescheids 1977 vom 6. Februar 1979 in vollem Umfang bis einen Monat nach Zustellung einer Entscheidung über den Einspruch ausgesetzt". Die Antragsteller hatten vor dem FG begehrt, die vom FA "mit dem Einkommensteuerbescheid 1977 ... festgesetzte Einkommensteuer-Abschlußzahlung in Höhe von 42 212 DM über den ... ausgesetzten Betrag von 1 048 DM hinaus ... aus der Vollziehung auszusetzen, bis über den ... Einspruch ... endgültig entschieden sein wird".

Hieraus ergibt sich zunächst, daß die Beschwerde des FA, soweit sie Kirchensteuer betrifft, mangels Beschwer unzulässig ist. Das FG hat über Kirchensteuer nicht entschieden.

Hinsichtlich der Einkommensteuer hat das FG die mißverständliche Entscheidungsformel gewählt, die Vollziehung des Einkommensteuerbescheids werde "in vollem Umfang" ausgesetzt. Der Senat hält es im Streitfall noch für möglich, den Einkommensteuerbetrag, dessen Vollziehung das FG aussetzen wollte, durch Auslegung zu ermitteln. Es sollte, wie die Kostenentscheidung ergibt, dem Begehren der Antragsteller voll entsprochen werden. In den Gründen heißt es ergänzend im Zusammenhang mit der Anführung des Antrags, dieser sei begründet; er führe zur Aussetzung des Einkommensteuerbescheids in vollem Umfang.

Hieraus folgt: Der Beschwerdeantrag des FA ist auch insoweit unzulässig, als gerügt wird, das FG habe die Vollziehungsaussetzung von mehr als 42 212 DM Einkommensteuer angeordnet.

2. Soweit die Beschwerde zulässig ist (42 212 DM Einkommensteuer), ist sie zu einem geringen Teil begründet. Die volle Berücksichtigung des geltend gemachten Verlustes würde lediglich zu einer Einkommensteuerermäßigung von 40 726 DM führen. In Höhe der Differenz und in Höhe des bereits vom FA ausgesetzten Betrags hätte der Antrag abgelehnt werden müssen.

Im übrigen (39 677,88 DM Einkommensteuer) ist die Beschwerde unbegründet.

Nach § 69 Abs. 3 Satz 1 und 2 FGO kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag schon vor Erhebung der Anfechtungsklage die Vollziehung ganz oder teilweise aussetzen. Der Vollziehungsaussetzung steht nicht entgegen, daß der auszusetzende Betrag bereits im Vorauszahlungsverfahren angefordert war. Vorauszahlungen und andere auf die Einkommensteuer anzurechnende Beträge mindern zwar nicht die Steuerschuld, wirken indes als Tilgungen (Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 11. November 1966 VI R 68/66, BFHE 87, 514, BStBl III 1967, 214) und haben zur Folge, daß das im Steuerbescheid enthaltene Leistungsgebot lediglich in Höhe des Unterschiedsbetrags vollzogen werden kann. Das FG geht zu Recht davon aus, daß auf die Jahreseinkommensteuer nur die tatsächlich entrichteten Vorauszahlungen angerechnet werden können. Dies ergibt sich unmittelbar aus § 36 Abs. 2 Nr. 1 EStG 1975/77 (§ 47 Abs. 1 Nr. 1 EStG 1974), wonach die "entrichteten" Vorauszahlungen auf die Einkommensteuer angerechnet werden. In Übereinstimmung hiermit ordnet § 36 Abs. 4 Satz 1 EStG 1975/77 (§ 47 Abs. 2 EStG 1974) an, daß ein Abrechnungsüberschuß zuungunsten des Steuerpflichtigen, soweit er den fällig gewordenen, aber noch nicht entrichteten Vorauszahlungen entspricht, sofort, im übrigen innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe des Steuerbescheids, zu entrichten ist. Die in dieser Vorschrift verwandte Klammerdefinition "Abschlußzahlung" bezieht sich nach Auffassung des Senats auf beide Teile des Abrechnungsüberschusses, nämlich die fälligen noch nicht entrichteten Vorauszahlungen und das sog. "Abrechnungssoll" (siehe bereits BFH-Urteil vom 21. Juli 1955 II 55/54 U, BFHE 61, 264, BStBl III 1955, 298 für die Zeit vor Einführung des § 47 Abs. 2 EStG 1953). Die fälligen noch nicht entrichteten Vorauszahlungen werden deswegen als Teil der Abschlußzahlung besonders hervorgehoben, weil es unangemessen wäre, für bereits fällig gewesene Steuerbeträge eine weitere Zahlungsfrist einzuräumen. Die Abschlußzahlung als Ganzes ist die Geldleistung, die gemäß § 249 der Abgabenordnung (AO 1977) aus dem Jahressteuerbescheid gefordert werden kann. In diesem Ausmaß kommt auch eine Aussetzung der Vollziehung in Betracht.

Der Auffassung des FA, daß der Vorauszahlungsbescheid des nicht entrichteten Vorauszahlungssolls weiterhin vollzogen werden könne, ist unzutreffend. Der Vorauszahlungsbescheid bleibt zwar Leistungsgebot für die entrichteten Vorauszahlungen und für die Erhebung von Säumniszuschlägen bis zum Erlaß des Jahressteuerbescheids. Daher mag es auch gerechtfertigt sein, einen Rechtsstreit gegen den Vorauszahlungsbescheid nach Ergehen des Jahressteuerbescheids noch nicht als in der Hauptsache erledigt anzusehen (vgl. insbesondere B FH-Urteil vom 14. Januar 1965 IV 9/64, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung 1965 S. 334 - HFR 1965, 334 - ; zweifelnd BFH-Urteil vom 31. Mai 1978 I R 105/77, BFHE 125, 336, BStBl II 1978, 596). Dies ändert jedoch nichts daran, daß der Vorauszahlungsbescheid, soweit er nicht vollzogen ist, seine Wirkung verliert und an seine Stelle der Jahressteuerbescheid tritt, sowohl als Zahlungs- und Beitreibungsgrundlage als auch als Grundlage für den Anfall weiterer Säumniszuschläge. Wenn, wie auch das FA anerkennt, ein Jahressteuerbescheid mit einem Abrechnungsüberschuß zugunsten des Steuerpflichtigen (§ 36 Abs. 4 Satz 2 EStG 1975/77) die Anforderung nicht entrichteter Vorauszahlungen hinfällig macht, ist nicht einzusehen, daß für den umgekehrten Fall anderes gelten soll.

Der BFH hat in ständiger Rechtsprechung entschieden, daß ein Antrag auf Aufhebung der Vollziehung von Steuerbescheiden (§ 69 Abs. 3 Satz 4 FGO) nicht zur Erstattung angerechneter Beträge führen dürfe (zuletzt Beschluß vom 5. August 1980 VIII B 108/79, BFHE 131, 282 BStBl II 1981, 35). Diese Rechtsprechung steht nicht der Auffassung entgegen, daß rückständige Vorauszahlungen erneut aus dem Jahressteuerbescheid angefordert und in dessen Vollziehungsaussetzung nach § 69 Abs. 3 Satz 1 FGO einbezogen werden können. Es wurde vielmehr ausdrücklich offengelassen, wie dieser Fall zu behandeln ist (vgl. Beschluß vom 19. Juni 1969 V B 8/69, BFHE 96, 44, BStBl II 1969, 527 für die gleichgelagerte Problematik nicht entrichteter vorangemeldeter Umsatzsteuerbeträge). Das FA beruft sich auf die Aussage der oben angegebenen Rechtsprechung, daß durch eine Aussetzung der Vollziehung nur der Zustand vor Erlaß des angegriffenen Bescheids einstweilen wiederhergestellt werden könne (u. a. Beschluß vom 27. Januar 1977 IV B 72/74, BFHE 121, 289, BStBl II 1977, 367). Es meint, ihm müsse danach die Möglichkeit erhalten bleiben, die unanfechtbar festgesetzten nicht entrichteten Vorauszahlungen so anzufordern und gegebenenfalls beizutreiben, als ob der Jahressteuerbescheid nicht ergangen sei. Die erwähnte Aussage ist indes im Zusammenhang mit § 69 Abs. 3 Satz 4 FGO (Aufhebung der Vollziehung) gemacht worden und auf diese Vorschrift beschränkt. Verschafft sich das FA, wie hier, hinsichtlich nicht entrichteter Vorauszahlungen ein neues Leistungsgebot, muß es damit rechnen, daß der Steuerpflichtige auch hinsichtlich dieser Beträge einen Rechtsbehelf einlegt und die Aussetzung der Vollziehung beantragt. Die Interessen des FA sind nicht unzumutbar beeinträchtigt. Das FA hat es in der Hand, wann es den Jahressteuerbescheid erlassen will. Andererseits könnten die Antragsteller keinen einstweiligen Rechtsschutz erlangen, wenn ihnen die Möglichkeit einer Aussetzung der Vollziehung des Jahressteuerbescheids genommen würde. Hinsichtlich der Vorauszahlungen ist kein Hauptsacheverfahren anhängig, an das Anträge nach §§ 69, 114 FGO anknüpfen könnten. Da sich die Umstände, die eine Ermäßigung der Vorauszahlungen rechtfertigen, erst im Laufe des Jahres 1977 einstellten, hatten die Antragsteller keinen Anlaß, den früher ergangenen Vorauszahlungsbescheid anzufechten. Ihr Antrag auf Herabsetzung der Vorauszahlungen aber hatte sich mit Erlaß des Jahressteuerbescheids in der Hauptsache erledigt (BFH-Urteil in BFHE 125, 336, BStBl II 1978, 596).

Der Senat nimmt mit dem FG an, daß ernstliche Zweifel an der Nichtberücksichtigung des geltend gemachten Verlustes bestehen. Das FA ist auf die Erwägungen des FG nicht eingegangen. Der Hinweis auf das Schreiben des Bundesministers der Finanzen (BdF) vom 7. November 1979 IV B 1 - S 2253-76/79 (BStBl I 1980, 3) gibt keinen Anlaß für eine andere Beurteilung. Das FA hat nicht dargelegt, inwiefern die vom BdF geäußerte Auffassung auf den Streitfall anwendbar ist.

 

Fundstellen

Haufe-Index 422865

BStBl II 1981, 767

NJW 1981, 2215

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