Leitsatz

1. Erstattungsansprüche des Jobcenters nach § 74 Abs. 2 EStG i.V.m. §§ 102 bis 105 SGB X sind mit der allgemeinen Leistungsklage geltend zu machen, da zwischen den Leistungsträgern kein Über- und Unterordnungsverhältnis besteht.

2. Für die Monate, in denen die Familienkasse rechtzeitig geleistet hat, scheidet ein Erstattungsanspruch des Jobcenters aus (Bestätigung der Senatsrechtsprechung, Senatsurteil vom 2.6.2022 – III R 9/21, BFHE 277, 294, BStBl II 2022, 840).

3. Ein Erstattungsanspruch ist außerdem ausgeschlossen, wenn die Familienkasse selbst geleistet hat, bevor sie von der Leistung des Jobcenters Kenntnis erlangt hat (Bestätigung der Senatsrechtsprechung, Senatsurteil vom 2.6.2022 – III R 9/21, BFHE 277, 294, BStBl II 2022, 840).

4. Im Fall des § 74 Abs. 2 EStG i.V.m. § 104 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 SGB X hat die Familienkasse von der Leistung des Jobcenters Kenntnis erlangt, sobald eine entsprechende Mitteilung unter der eigens für Erstattungsanträge eingerichteten Funktionsadresse der Familienkasse eingegangen ist.

5. Organisatorische Entscheidungen der Familienkasse, die dazu führen, dass dem für die Festsetzung und Auszahlung des Kindergelds zuständigen Sachbearbeiter eine in den Geschäftsbereich gelangte Information nicht bekannt wird, rechtfertigen es nicht, diese im Verhältnis zu Dritten als unbekannt zu werten.

 

Normenkette

§§ 62 ff., § 74 Abs. 2 EStG, V 33.1 Satz 4 DA-KG 2017, V 34.1 Abs. 1 Satz 4 DA-KG 2021, §§ 102 ff., § 111 SGB X

 

Sachverhalt

Das klagende Jobcenter bewilligte dem in einer eigenen Wohnung lebenden Kind mit Bescheid vom 8.5.2017 ab Juni 2017 Leistungen nach dem SGB II ohne Anrechnung von Kindergeld. Am selben Tag sandte das Jobcenter an die damals eigens eingerichtete Funktionsadresse der Familienkassen für Erstattungsanträge eine E-Mail und teilte u.a. mit, das Kind erhalte seit dem 1.6.2017 Leistungen nach dem SGB II, weshalb ein Erstattungsanspruch gemäß §§ 102 ff. SGB X i.V.m. § 40a SGB II geltend gemacht werde. Das Schreiben gelangte zu der für den Kindsvater zuständigen Familienkasse. Der Kindergeldantrag wurde dann jedoch von der Kindsmutter bei der für den Kindsvater zuständigen Familienkasse gestellt, die ihn ohne die Erstattungsanzeige an die für die Kindsmutter zuständige Familienkasse weiterleitete. Diese Familienkasse setzte mit Bescheid vom 12.9.2017 ab Juni 2017 Kindergeld zugunsten der Kindsmutter fest und zweigte es an das Kind ab. Für Juni bis September erfolgte die Auszahlung im Oktober 2017, ab Oktober 2017 wurde im laufenden Monat ausgezahlt. Ab November 2017 rechnete das Jobcenter das Kindergeld auf die ALG-II-Leistungen an. Ein Mitarbeiter des Jobcenters rief daraufhin am 21.9.2017 beim Servicecenter der Familienkassen an und teilte u.a. mit, es sei bereits ein Erstattungsanspruch geltend gemacht worden. Die Familienkasse der Kindsmutter lehnte eine Erstattung ab, weil sie selbst ­geleistet habe, bevor sie von der Leistung des Sozialhilfeträgers Kenntnis erlangt habe. Die Erstattungsforderung sei erst am 21.9.2017 eingegangen, nachdem die nachzuzahlenden Beträge bereits am 12./18.9.2017 zur Auszahlung angewiesen worden seien. Seither werde das Kindergeld laufend gezahlt. Das FG (Hessisches FG, Urteil vom 16.4.2021, 2 K 302/18, Haufe-Index 14688688) gab der allgemeinen Leistungsklage des Jobcenters statt.

 

Entscheidung

Die Revision der Familienkasse hatte hinsichtlich der Monate September und Oktober 2017 Erfolg, weil die Familienkasse insoweit das Kindergeld rechtzeitig gezahlt hatte. Hinsichtlich der Monate Juni bis August 2017 wies der BFH die Revision zurück, weil die Familienkasse verspätet geleistet hatte und über die allgemeine Funktionsadresse der Familienkassen hinreichende Kenntnis von dem Erstattungsanspruch des Jobcenters erlangt hatte.

 

Hinweis

1. Der Erstattungsanspruch nach § 74 Abs. 2 EStG führt zu einem Dreiecksverhältnis zwischen Kindergeldberechtigtem, Familienkasse und Sozialleistungsträger (hier: Jobcenter). Ggf. kann bei Vorliegen einer Abzweigung auch noch eine vierte natürliche oder juristische Person hinzukommen. Die Klageart bestimmt sich danach, in welchem Verhältnis der Rechtsstreit geführt wird. Lehnt die Familienkasse die Auszahlung gegenüber dem Kindergeldberechtigten unter Hinweis auf den Erstattungsanspruch des Sozialleistungsträgers ab, steht dem Kindergeldberechtigten die Anfechtungsklage gegen den Abrechnungsbescheid offen. Wird der Rechtsstreit zwischen Familienkasse und Sozialleistungsträger geführt, weil der Sozialleistungsträger Auszahlung (wie im Besprechungsfall) oder die Familienkasse Rückzahlung begehrt, handelt es sich um eine allgemeine Leistungsklage, weil sich zwei Hoheitsträger gegenüberstehen.

2. Der Erstattungsanspruch nach § 74 Abs. 2 EStG i.V.m. § 104 Abs. 1 Satz 1 SGB X setzt u.a. voraus, dass ein nachrangig verpflichteter Leistungsträger Sozialleistungen erbracht hat. Nachrangig verpflichtet ist ein Leistungsträger, soweit dieser bei rechtzeitiger Erfüllung der Leistungsverpflichtung eines anderen (vorr...

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