Wie ist Agilität aus psychologischer Sicht zu beurteilen? Welche Widersprüchlichkeiten zeigen sich und wie gehen Menschen damit um? Diesen Fragen geht Rainer Becker in seinem Beitrag "Agile (Ver-)Führung – Psycho-Logie eines Mindset" nach. Basis des Beitrags sind 21 psychologische Tiefeninterviews zur Fragestellung, wie Agilität auf die Psyche wirkt und welche Bilder und Geschichten die Befragten damit verknüpfen. Die meisten Interviewpartner hatten einerseits eine feste Meinung zur Agilität und dem nötigen Mindset, hatten aber andererseits keine genaue Vorstellung, was mit Agilität gemeint ist. Insgesamt traten während des Interviews Widersprüche auf, die der Autor in fünf Paradoxen gliedert.[1]

Paradoxon 1: Überzeugende Unbestimmtheit

Agilität und der damit verbundene Mindset wird als „Überzeugung, innere Haltung und Weltsicht“ erlebt. Man fühlt sich zugehörig, identifiziert sich mit dem Konzept der Agilität und der damit verbundenen neuen Definition der Arbeitswelt. Jedoch bleibt unklar, was Agilität genau bedeutet, was die Eckpfeiler sind und wie die Umsetzung gelingen kann.

Paradoxon 2: Selbstverwirklichender Selbstverzicht

Agilität steht bei den Interviewten für Freiheit und Selbstbestimmung. Man fühlt sich in der neuen Arbeitswelt frei von Hierarchien und kann die eigenen Neigungen einbringen. Dieses Gefühl der Freiheit steht im Gegensatz zu der Unterordnung in das jeweilige agile Team. Außerdem fordern die sich häufig ändernden Rahmenbedingungen unserer heutigen VUCA-Welt (VUCA steht für: Volatility, Uncertainty, Complexity, Ambiguity) eine ständige Anpassungsleistung des Einzelnen. Dies steht im Kontrast zu Freiheit und Selbstbestimmung.

Paradoxon 3: Tolerante Diskriminierung

Einerseits wird Agilität als Gleichheit und Toleranz in einer Arbeitsgruppe erlebt. Menschen mit unterschiedlichen Charakteren und Hintergründen kommen zusammen und arbeiten wertschätzend gemeinsam an einem größeren Projekt. Andererseits wird einigen Personengruppen aber aberkannt, dass sie agil arbeiten können wie z. B. älteren Mitarbeitenden oder Menschen mit niedrigerem Bildungsabschluss.

Paradoxon 4: Verheißungsvolle Bedrohung

Agilität wird als jugendlich wahrgenommen. Man arbeitet zusammen, hat Spaß und feiert erreichte Ziele. Die Bedrohungen, die wahrgenommen werden, kommen aus zwei Ebenen. Einerseits von außen: nicht enden wollende Aufgaben und Kritik aus der nicht-agilen Welt. Andererseits wird die Agilität selbst als Gefahr wahrgenommen. Man ist sich nicht sicher, ob man beispielsweise Wirtschaftskrisen im Unternehmen als agiles Team lösen kann. Ferner bestehen Ängste, ob die neue agile Arbeitswelt so bestehen bleiben wird. Was, wenn die neue jugendliche Arbeitswelt keinen Bestand hat und Agilität nur ein Managementtrend ist, der in den nächsten Jahren wieder in Vergessenheit geraten wird?

Paradoxon 5: Vergessener Kunde

Der Kunde wird in den Interviews kaum genannt. Vielmehr ist das Erleben der Agilität auf die neuen Teamstrukturen begrenzt. Das birgt die Gefahr, dass Unternehmen anfangen, sich zu viel mit sich selbst und der Umsetzung von Agilität zu beschäftigen und dabei den Markt und die Kunden aus den Augen verlieren. Das ist paradox, weil Agilität im Ursprung ja daraus entstanden ist, aus der Kundenperspektive zu denken.

Aus psychologischer Sicht könnte man Agilität auch als Bewältigungsstrategie für die VUCA-Welt verstehen. Die Menschen sind heute mit Problemen konfrontiert wie kaum eine Generation vor ihnen: voranschreitender Klimawandel, Kriege, Energieknappheit – um nur einige zu nennen. Wirtschaft und Gesellschaft befinden sich in einem tief greifenden Transformationsprozess. Die menschliche Psyche reagiert darauf mit verschiedenen Verarbeitungsstrategien. Diese können sein: Aggression, Verweigerung, Depression, Distanzierung. Eine weitere Form der Verarbeitung ist sich selbst als Teil des Prozesses zu sehen, d. h. ein agiles Mindset zu haben. Dadurch, dass man selbst VUCA wird und sich im Prozess als Teil der Veränderung erlebt, hat man das Gefühl nicht mehr ohnmächtig zu sein. Die vermeintlichen Bedrohungen werden umgedeutet in Chancen und Möglichkeiten.

[1] Vgl. Bäcker, 2022, S. 26-31

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