Unter bestimmten Voraussetzungen ist eine vorläufige Steuerfestsetzung gem. § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 bis 4 AO auch im Fall ungewisser Rechtsvorschriften zulässig. Zweck dieser Regelung ist es, im Fall schwebender "Musterverfahren" bei den Obergerichten den Steuerbescheid offenzuhalten und damit massenhafte Einsprüche zu verhindern.

Neben der praktisch kaum bedeutsamen Möglichkeit eines Vorläufigkeitsvermerks für den Fall eines noch abzuschließenden, sich zugunsten des Steuerpflichtigen auswirkenden Doppelbesteuerungsabkommens (Nr. 1) kann das Finanzamt die Steuer insoweit vorläufig festsetzen, als

  • das BVerfG die Unvereinbarkeit eines Steuergesetzes mit dem Grundgesetz festgestellt und den Gesetzgeber zu einer Neuregelung verpflichtet hat (Nr. 2),
  • sich aufgrund einer Entscheidung des EuGH ein Bedarf für eine gesetzliche Neuregelung ergeben kann (Nr. 2a),
  • die Vereinbarkeit eines Steuergesetzes mit höherrangigem Recht (Grundgesetz oder EU-Recht) Gegenstand eines Verfahrens bei dem EuGH, dem BVerfG oder dem BFH ist (Nr. 3), und zwar im Zeitpunkt der Steuerfestsetzung[1],
  • die Auslegung eines Steuergesetzes Gegenstand eines Verfahrens beim BFH ist (Nr. 4).[2]

Die Entscheidung über die Anwendung des § 165 Abs. 1 Satz 2 AO steht zwar – wie auch im Fall der tatsächlichen Ungewissheit nach Satz 1 – im Ermessen des jeweiligen Finanzamts.[3] In der Praxis erfolgt dies aber in den Fällen des Satzes 2 ausschließlich nach den Vorgaben der obersten Finanzbehörden des Bundes und der Länder durch BMF-Schreiben oder gleichlautende Länder­erlasse[4], wovon regelmäßig auch Gebrauch gemacht wird, insbesondere in Form der Aktualisierung des sog. Vorläufigkeitskatalogs. Nur so ist gewährleistet, dass die Regelung bundeseinheitlich und auch nur in "Massen-Fällen" Anwendung findet.

Nicht nur ein Erst-, sondern auch ein Änderungsbescheid kann – unter den Voraussetzungen des § 165 Abs. 1 Satz 2 AO – erstmals für vorläufig erklärt werden. Dies gilt uneingeschränkt, wenn ein Steuerbescheid unter dem Vorbehalt der Nachprüfung nach § 164 Abs. 2 AO geändert oder der Vorbehalt der Nachprüfung nach § 164 Abs. 3 AO aufgehoben wird. Wird der Bescheid nach den §§ 172ff. AO geändert, ist eine Vorläufigkeitserklärung nur bei Änderung zuungunsten des Steuerpflichtigen möglich, und dabei auch nur mit Wirkung insoweit, als die Änderung reicht.

Auch nach einem Einspruch gegen einen Steuerbescheid, der noch nicht nach § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO für vorläufig erklärt ist, ist eine Vorläufigkeitserklärung auch ohne ausdrückliche Zustimmung des Steuerpflichtigen möglich[5] und ggf. auch geboten.[6] Davon machen die Finanzämter in der Praxis auch häufig Gebrauch. Falls der diesem nachträglichen Vorläufigkeitsvermerk zugrunde liegende Sachverhalt der einzige vom Einspruchsführer geltend gemachte Streitpunkt ist und er zugleich Ruhen des Verfahrens gem. § 363 Abs. 2 Satz 2 AO beantragt hat[7], führt dies zu einem das Einspruchsverfahren erledigenden Abhilfebescheid. Weitere Einwendungen sind dann nur noch innerhalb der dadurch neu ausgelösten Einspruchsfrist von einem Monat zulässig.[8] Denn ein Einspruch gegen einen Abhilfebescheid ist zulässig, soweit der Steuerpflichtige nach wie vor beschwert ist, also die festgesetzte Steuer mehr als 0 EUR beträgt.[9]

 
Wichtig

Neue Einspruchsgründe prüfen

Es empfiehlt sich daher, den Bescheid nochmals genau unter die Lupe zu nehmen. Sollten sich dabei neue tatsächliche oder rechtliche Erkenntnisse ergeben, können diese mittels eines erneuten Einspruchs vorgetragen werden.

Die nachträgliche Aufnahme eines solchen Vorläufigkeitsvermerks kann auch im Rahmen einer Einspruchsentscheidung erfolgen, nachdem der Einspruch durch Berufung auf ein vorgreifliches Verfahren zunächst nach § 363 Abs. 2 Satz 2 AO geruht hat. Dadurch wird zugleich die Verfahrensruhe beendet. Somit bietet der Vorläufigkeitsvermerk einen der Verfahrensruhe gleichwertigen Rechtsschutz.[10]

Solange ein maschinell vorgegebener Vorläufigkeitsvermerk noch nicht dem aktuellsten Stand entspricht bzw. ein manuell anzuweisender Vorläufigkeitsvermerk noch nicht gesetzt ist, ist zur Wahrung der Rechte der Einspruch (ggf. mit Antrag auf Ruhen des Verfahrens) erforderlich. Wer sich also im Hinblick auf eine steuerrechtliche Problematik, die von verfassungsrechtlicher Bedeutung ist, im konkreten Einzelfall gegen eine negative Entscheidung des Finanzamts wehren will, muss prüfen, ob sein Steuerbescheid einen entsprechenden Vorläufigkeitsvermerk enthält. Ist dies nicht der Fall, kann er das Verfahren nur über einen Einspruch offenhalten. Dies gilt auch bei Bescheiden, die unter Vorbehalt der Nachprüfung stehen, da dieser gem. § 164 Abs. 4 AO mit Ablauf der Festsetzungsfrist automatisch wegfällt.

Dem Gesetzeszweck zufolge sind mit einem Vorläufigkeitsvermerk die Rechte des Steuerpflichtigen insbesondere für den Fall des günstigen Ausgangs einer anhängigen Verfassungsbeschwerde gewahrt. Legt er trotz eines solchen Vermerks bezüglich einer verfassungsrechtlich umstrittenen Besteue...

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