Insbesondere den Multiplikatorenverfahren wird vorgehalten, dass sie

  1. keine (fundamentalen) Werte, sondern nur (zufällige) Marktpreise ermitteln, die demzufolge
  2. nichts über den subjektiven Entscheidungswert eines Investors (in Abhängigkeit von Synergien usw.) aussagen.

Das zweite Argument betrifft die Unterscheidung sog. objektivierter Unternehmenswerte von sog. subjektiven Entscheidungswerten. Es greift bei Bewertungsanlässen, in denen es nach der Rechtsprechung nur auf den investorunabhängigen Verkehrswert ankommt (Familienrecht, gesellschaftsrechtliche Abfindungen), von vornherein nicht. Aber auch sonst ist die Bedeutung des Entscheidungswerts begrenzt: Ein Unternehmenskäufer kann bereit sein, mehr als den Marktpreis zu zahlen, weil er z. B. Synergien erwartet. Unter der Überschrift "Funktionenlehre" wird dies theoretisch aufgebläht. Tatsächlich geht es im Kern um eine triviale, jedermann z. B. aus Grundstücksarrondierungen bekannte Tatsache:

 
Praxis-Beispiel

Entscheidungswert

Bauträger B besitzt bereits die Grundstücke Bachstraße 1 bis 5 und 7 bis 10. Grundstück 6 gehört noch A. B plant eine Gesamtbebauung der Straße, woraus er (nach kalkulatorischer Eigenkapitalverzinsung und vor Kosten des Grundstücks 6) einen Gewinn von 5 Mio. EUR erwartet. Er erwirbt Grundstück 6 (Verkehrswert bzw. Marktpreis: 250 TEUR) für 1 Mio. EUR und realisiert mit der Bebauung der Straße einen Gewinn von 4 Mio. EUR.

In der Begrifflichkeit der Funktionenlehre hätte der Gutachter in der Beratungsfunktion einen Entscheidungswert (Preisobergrenze) von 5 Mio. EUR ermittelt. Man kann niemandem verbieten, diese 5 Mio. EUR gegen allgemeinen Sprachgebrauch als Grundstückswert zu bezeichnen. In der Realität wird der Erwerber jedoch regelmäßig nicht bereit sein, seinen operativen Gewinn an den Veräußerer abzuführen. Eine grobe Vorstellung vom Grenzpreis, für die man kein Gutachten benötigt, wird ausreichen. Die Preisverhandlungen werden eher beim Verkehrswert beginnen und dort enden, wo der Veräußerer ("Geschäft meines Lebens") einfach nicht mehr nein sagen kann.

Praxisnäher als das Entscheidungswertargument scheint das Argument der mangelnden Unterscheidung zwischen Wert und Marktpreis.

 
Praxis-Beispiel

Wert versus Marktpreis

Der Verfall des Neuen Markts im Jahr 2001 kann als Beispiel dienen. Wo sich Kurswerte in wenigen Monaten um 80 % oder mehr reduzierten, ohne wesentliche Änderung bei den Ist-Zahlen für Umsätze, Kundenzahl usw., sind auch die Umsatz- und Kundenmultiplikatoren entsprechend geschrumpft. Eine Similar Public Company-Bewertung auf Multiplikatorenbasis hätte also im Frühjahr 2001 zu 5 Mal so hohen Unternehmenswerten geführt wie im Herbst 2001. Aus dieser Sicht könnte einer marktorientierten Bewertung vorgehalten werden, dass sie nur spekulative Marktschwankungen nachbilde.

Dieser Kritik ist nicht nur die Frage entgegenzuhalten, ob sie nicht aus einem Glashaus kommt (DCF-Gutachten als Basis überhöhter Emissionspreise und Analystenempfehlungen). Vor allem ist es keine neue Erkenntnis, dass man Cabrios am teuersten im Frühjahr einkauft. Was an den Technologiebörsen passierte, ist auch ohne die Unterscheidung von Wert und Preis und ohne DCF-Verfahren zu erklären: Die Unterscheidung zwischen kurz- und langfristigem Marktgleichgewicht reicht aus. Wer Anfang 2000 in bestimmte Technologieunternehmen (oder -aktien) investieren wollte, musste u. U. das 20- oder 100-fache des Jahresumsatzes (pro Aktie) zahlen, weil eben dies der aktuelle Marktpreis war. Wenn er unter Berufung auf den niedrigeren Wert einen anderen Preis geboten hätte, hätte er keinen Vertragspartner gefunden. Niemand hätte ihm allerdings, auch nicht durch DCF-Prognosen, garantieren können, dass die Preise langfristig so hoch bleiben würden. Tatsächlich hätte ein Blick auf Kurs-Umsatz-Verhältnisse traditioneller Branchen und ein Blick auf die historische Marktpreisentwicklung ehemals neuer Technologien (Eisenbahnaktien im 19. Jahrhundert, Automobil- und Rundfunkaktien nach dem Ersten Weltkrieg) warnen müssen: Auch bei besten Wachstumsaussichten wird die langfristige Marktpreisentwicklung eher durch 1- als durch 2-stellige Umsatzmultiplikatoren abgebildet.

Richtig eingesetzt kann die marktorientierte Bewertung in der Unterscheidung von kurzer und langer Frist den aktuellen Marktpreis mit langfristigen Marktpreisentwicklungen konfrontieren. Sie kann dadurch Bewertungssicherheit gewinnen bzw. Bewertungsunsicherheit verdeutlichen.

  • Ist ein Unternehmen zu bewerten und weichen die aktuellen Multiplikatoren der Vergleichsunternehmen nur wenig von den langfristigen Branchenwerten ab, ist die Bewertungssicherheit hoch.
  • Ist ein Unternehmen zu bewerten und weichen die Multiplikatoren der Vergleichsunternehmen schon untereinander, erst recht aber gegenüber traditionellen Branchen stark ab (etwa bei einem Start-up-Unternehmen), ist die Bewertung schon in der Augenblicksbetrachtung (aktueller Marktpreis) unsicher. Erst recht ist aber auf die Möglichkeit langfristigen drastischen Preisverfalls h...

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