Leitsatz

1. Die Frage, ob eine Tätigkeit selbstständig oder nichtselbstständig ausgeübt wird, ist anhand einer Vielzahl in Betracht kommender Merkmale nach dem Gesamtbild der Verhältnisse zu beurteilen. In diese Gesamtwürdigung ist auch einzubeziehen, wie das der Beschäftigung zugrunde liegende Vertragsverhältnis ausgestaltet worden ist, sofern die Vereinbarungen ernsthaft gewollt und tatsächlich durchgeführt worden sind (Bestätigung der ständigen Senatsrechtsprechung, Urteil vom 14.6.1985, VI R 150-152/82, BFHE 144, 225, BStBl II 1985, 661).

2. Diese Gesamtwürdigung ist als eine im Wesentlichen auf tatrichterlichem Gebiet liegende Beurteilung revisionsrechtlich nur begrenzt überprüfbar. Allerdings ist die Gesamtwürdigung materiell-rechtlich fehlerhaft, wenn die Tatsacheninstanz die maßgeblichen Umstände nicht vollständig oder ihrer Bedeutung entsprechend in ihre Überzeugungsbildung einbezieht.

 

Normenkette

§ 19 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG, § 1 Abs. 2 Sätze 1, 2 LStDV

 

Sachverhalt

K betrieb ein Markt- und Meinungsforschungsunternehmen und stellte in ihren Räumen 100 Computerarbeitsplätze Telefoninterviewern für Interviews zur Verfügung. Für die 5 bis 25 Minuten dauernden Interviews gab es an den Bildschirmen angezeigte Fragebögen; die Antworten wurden im Computer erfasst. Die Interviewer, teilweise von einem Supervisor überwacht, waren meist vier Stunden tätig. Grundlage war eine sog. Rahmenvereinbarung. Danach sollten die Interviewer als freie Mitarbeiter tätig sein – ohne feste Arbeitszeiten und ohne Einsatzpläne. Die Interviews galten danach als Werk (§ 631 BGB) mit Honorarvereinbarung für jeden Einzelauftrag. K qualifizierte die Telefoninterviewer als Selbstständige, führte daher für die Honorare keine LSt und SV-Beiträge ab; das FA ging dagegen von Arbeitnehmern aus und erließ einen entsprechenden LSt-Haftungsbescheid. Die Klage dagegen war teilweise erfolgreich. Bei den Telefoninterviewern ging allerdings auch das FG von Arbeitnehmern aus und setzte lediglich die LSt mittels eigener Schätzung herab (FG Köln, Urteil vom 14.3.2012, 2 K 476/06, Haufe-Index 3114439, EFG 2012, 1650).

 

Entscheidung

Die Gesamtwürdigung des FG war, wie in den Praxis-Hinweisen erläutert, unvollständig und daher rechtsfehlerhaft, sodass die Vorentscheidung aufgehoben und der Fall an das FG zurückverwiesen wurde.

 

Hinweis

1."Keine Lohnsteuerhaftung ohne Lohn": Entscheidend in diesem Fall war, ob K statt Honorare doch Löhne bezahlt hatte, nämlich "Bezüge und Vorteile für eine Beschäftigung im öffentlichen oder privaten Dienst". Der Arbeitnehmerbegriff ist tatbestandlich nicht scharf umrissen; es gilt ­unverändert das "Werbedamenurteil" (BFH, Urteil vom 14.6.1985, VI R 150-152/82, BStBl II 1985, 661). Danach liegt ein Dienstverhältnis vor, wenn dem Arbeitgeber die Arbeitskraft geschuldet ist. Steht hier der Telefoninterviewer in der Betätigung seines geschäftlichen Willens unter der Leitung des ­Arbeitgebers (K) oder im geschäftlichen Organismus des Arbeitgebers und muss dessen Weisungen folgen? (BFH, Urteil vom 20.11.2008, VI R 4/06, BFH/NV 2009, 467, BFH/PR 2009, 134). Die Arbeitnehmereigenschaft beurteilt sich nach dem Gesamtbild der Verhältnisse anhand der Indizien, wie sie im Urteil 1985 aufgeführt sind. Aber im Besprechungsurteil betont der Lohnsteuersenat den teilweise in den Hintergrund getretenen Umstand, dass diese Indizien nicht für sich allein stehen, sondern mit Blick auf das Vertragsverhältnis der Beschäftigung zu würdigen sind.

2. Diese Gesamtwürdigung ist zwar der Tatsacheninstanz überantwortet und revisionsrechtlich nur begrenzt überprüfbar. Aber ein revisionsrechtlich erheblicher materiell-rechtlicher Fehler liegt vor, wenn die für die Gesamtwürdigung maßgeblichen Umstände nicht vollständig oder ihrer Bedeutung entsprechend einbezogen wurden. Von einer solchen unvollständigen Würdigung ging der BFH hier aus. Denn entgegen dem FG sind Erfolgshonorare wesentliches Indiz für eine selbstständige Tätigkeit. Und selbst wenn man das Honorar in ein Stundenhonorar umrechnet (das geht naturgemäß ex ante immer), spricht das allein nicht für eine nichtselbstständige Tätigkeit. Der BFH verweist dazu auf die bei Rechtsanwälten, Handwerkern und anderen Selbstständigen durchaus üblichen Stundenhonorare. Weiter sprach das hier festgestellte Risiko eines möglichen Honorarausfalls (typische wirtschaftliche Situation eines Selbstständigen) für ein Unternehmerrisiko und gegen die Arbeitnehmereigenschaft; selbst wenn "nur" 10 % der Honorare ausfielen, war das arbeitnehmer­untypisch. Und schon im Werbedamen-Urteil waren Einnahmen­ausfälle durch Erkrankung und ­Urlaub als arbeitnehmeruntypisch bezeichnet worden; auch solche sprechen eher für ein Unternehmerrisiko. Und ein solches Risiko lässt sich, entgegen dem FG, nicht damit verneinen, dass die Interviewer nur in geringem zeitlichen Umfang tätig waren. Denn Nebentätigkeiten sprechen eher für eine selbstständige und gegen eine nichtselbstständige Tätigkeit, weil es in solchen Fällen an der Einglied...

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