Leitsatz

1. Ergibt sich aus einer Arbeitgeberbescheinigung, die von einem im Inland als Arbeitnehmer tätigen Staatsangehörigen eines anderen Mitgliedstaats vorgelegt wird, dass die Entsendung unter Beibehaltung der Sozialversicherung im Heimatland über zwei Jahre gedauert hat, kann daraus nicht geschlossen werden, dass die Entsendungsvoraussetzungen nach Art. 14 Nr. 1 Buchst. a und b der VO Nr. 1408/71 bereits von Beginn des Entsendungszeitraums an nicht vorgelegen haben können.

2. Ergeben sich aus der von dem Anspruchsteller vorgelegten Arbeitgeberbescheinigung Zweifel an dem Vorliegen der Entsendungsvoraussetzungen, ist bei den Trägern und Stellen, die über das auf den Anspruchsteller anzuwendende Recht zu befinden haben, zu ermitteln, welche Rechtsvorschriften im Anspruchszeitraum auf den Anspruchsteller Anwendung fanden.

3. Bestätigt der zuständige Träger des anderen Mitgliedstaats, insbesondere durch Erteilung einer Entsendebescheinigung nach dem Formular E 101, dass für einen bestimmten Zeitraum ein Fall des Art. 14 Nr. 1 Buchst. a oder b der VO Nr. 1408/71 gegeben war, ist diese Bescheinigung für die Familienkasse und das Finanzgericht bindend, solange sie nicht zurückgezogen oder für ungültig erklärt wird.

 

Normenkette

§§ 62 ff. EStG, Art. 14 Nr. 1 Buchst. a und b VO Nr. 1408/71, Art. 11, Art. 4 Abs. 10, Anhang 10 VO Nr. 574/72

 

Sachverhalt

Der polnische Kläger beantragte im Juli 2007 Kindergeld ab Mai 2004 für seine in Polen lebenden Kinder. Die Familienkasse lehnte das unter Hinweis auf seine Sozialversicherungspflicht in Polen ab.

Im Klageverfahren legte der Kläger eine Bescheinigung seines polnischen Arbeitgebers vor, wonach er ab dem 1.4.2005 an einen ausländischen Betrieb in Deutschland entsandt worden sei. Eine Versicherungspflicht zur BfA bestehe wegen seiner fortdauernder Sozialversicherung in Polen nicht.

Das Hessische FG (Urteil vom 16.4.2008, 2 K 3077/07) verpflichtete die Familienkasse, dem Kläger Kindergeld ab April 2005 in gesetzlicher Höhe zu gewähren.

 

Entscheidung

Die Revision führte zur Aufhebung und Zurückverweisung der Sache. Angesichts der Entscheidung des EuGH in der Sache C‐612/10 wird das FG zügig durchentscheiden können.

 

Hinweis

1. Der BFH geht davon aus, dass der Kindergeldanspruch durch die am 1.5.2010 außer Kraft getre­tenen VO Nr. 1408/71 und VO Nr. 574/72 ausgeschlossen sein könnten, wenn eine Sozialversicherungspflicht des Klägers im Entsendestaat Polen fortbestand. Falls auf diesen dagegen deutsche Rechtsvorschriften anzuwenden wären, bestünde ein Kindergeldanspruch, allerdings abhängig von einer Erwerbstätigkeit der mit den Kindern in Polen verbliebenen Mutter sowie dort gewährten Familienleistungen.

2. Das Urteil beschreibt detailliert, wie die maßgeblichen Auslandssachverhalte zu ermitteln sind und inwieweit Mitteilungen der zuständigen Träger anderer Mitgliedstaaten über eine Entsendung von Arbeitnehmern deutsche Behörden und Gerichte binden.

3. Die Entscheidung ist vor dem EuGH-Urteil vom 12.6.2012 (C-611/10 und C-612/10) ergangen und durch dieses teilweise überholt. Danach steht zwar Art. 14 Nr. 1 Buchst. a VO Nr. 1408/71 einer Versagung deutschen Kindergeldes für aus Polen entsandte Arbeitnehmer nicht entgegen, wohl aber die darin liegende Benachteiligung von Wanderarbeitnehmern. Deutschland darf den Kindergeldanspruch lediglich um die in Polen gewährten Leistungen kürzen.

 

Link zur Entscheidung

BFH, Urteil vom 15.3.2012 – III R 52/08

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