Leitsatz

1. Ist ein behindertes volljähriges Kind auf Kosten des Sozialhilfeträgers voll stationär in einer Pflegeeinrichtung untergebracht und wird der Kindergeldberechtigte aufgrund der Billigkeitsregelung in § 91 Abs. 2 Satz 2 BSHG a.F. nicht in Anspruch genommen, kommt dieser seiner Unterhaltspflicht nicht nach, so dass die Familienkasse das Kindergeld nach § 74 Abs. 1 Sätze 1 und 4 EStG an den Sozialhilfeträger abzweigen kann.

2. Auch wenn der Kindergeldberechtigte neben den Leistungen des Sozialhilfeträgers nur geringe eigene Unterhaltsleistungen für das Kind erbringt, ist die Ermessensentscheidung der Familienkasse, ob und in welcher Höhe das Kindergeld an den Sozialhilfeträger abgezweigt wird, nicht dahin gehend auf null reduziert, dass das gesamte Kindergeld an den Sozialhilfeträger auszuzahlen ist.

 

Normenkette

§ 74 Abs. 1 EStG

 

Sachverhalt

Der Kläger ist Vater eines behinderten volljährigen Sohns, der voll stationär in einer Pflegeeinrichtung untergebracht ist. Die Kosten werden vom Sozialhilfeträger im Rahmen der Eingliederungshilfe getragen. Im Hinblick darauf zweigte die Familienkasse das Kindergeld in voller Höhe an das Sozialamt ab.

Der Kläger machte geltend, das Kindergeld dürfe nicht abgezweigt werden. Da der Unterhaltsanspruch aus Billigkeitsgründen nicht auf den Sozialhilfeträger übergegangen sei und er daher nicht zu den Kosten der Eingliederungshilfe herangezogen werde, habe er seine Unterhaltspflicht nicht verletzt. Außerdem seien ihm rund 1.000 DM jährlich für das Vorhalten eines Zimmers, für Ausflüge, Fahrten usw. entstanden. Die Klage wurde abgewiesen.

 

Entscheidung

Der BFH hob das FG-Urteil mit der Begründung auf, das FG hätte die Betreuungsleistungen des Klägers bei der Höhe des abzuzweigenden Kindergelds berücksichtigen müssen. Der Betreuungsunterhalt sei regelmäßig pauschal zu berücksichtigen und nur die Hälfte des Kindergelds abzuzweigen.

Die Entscheidung verdeutlicht die Funktion des Kindergelds als steuerliche Freistellung eines Einkommensbetrags bei den Eltern in Höhe des Existenzminimums eines Kindes und – soweit es dafür nicht erforderlich ist – der Förderung der Familie. Daher sind auch geringe Unterhaltsleistungen bei der Prüfung, inwieweit das Kindergeld abzuzweigen ist, mit einzubeziehen. Dies gilt auch dann, wenn – wie im Streitfall – der Betreuungsunterhalt des Vaters gegenüber den dem Sozialamt entstehenden Kosten betragsmäßig gering erscheinen mag.

 

Hinweis

1. Einem behinderten Kind gegenüber umfasst die gesetzliche Unterhaltspflicht den gesamten Lebensbedarf, somit auch die behinderungs- bzw. krankheitsbedingten Mehrkosten bei dauernder Pflegebedürftigkeit.

2. Werden die Kosten für die Unterbringung in einer stationären Pflegeeinrichtung vom Sozialhilfeträger im Rahmen der Eingliederungshilfe getragen, geht der Unterhaltsanspruch des Kindes gegen seine Eltern in Höhe der geleisteten Aufwendungen auf den Sozialhilfeträger über. Da die Eingliederungshilfe nach dem Grundsatz der Subsidiarität der Sozialhilfe die Eltern nicht befreien soll, bleibt ihre Verpflichtung gegenüber dem Kind gleichwohl weiter bestehen. Das gilt auch dann, wenn der Anspruch wegen unbilliger Härte nicht auf den Sozialleistungsträger übergeht (§ 91 Abs. 2 Satz 2 BSHG, jetzt § 94 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB XII).

3. Kommen die kindergeldberechtigten Eltern jedoch ihrer Unterhaltsverpflichtung nicht nach, kann das für das behinderte Kind festgesetzte Kindergeld an die Person oder Stelle (z.B. an den Sozialleistungsträger) ausgezahlt werden, die dem Kind Unterhalt gewährt (sog. Abzweigung, § 74 Abs. 1 Sätze 1 und 4 EStG). Denn das Kindergeld soll demjenigen zukommen, der den Unterhalt tatsächlich gewährt.

4. Die Eltern kommen ihrer Unterhaltsverpflichtung nicht nach, wenn sie objektiv und dauerhaft für den wesentlichen Unterhalt nicht aufkommen. Ein schuldhaftes Verhalten oder gar eine strafbare Unterhaltspflichtverletzung ist nicht erforderlich.

a) Tragen die Eltern überhaupt nichts zum Unterhalt bei, ist es allein ermessensgerecht, das Kindergeld insgesamt dem Sozialhilfeträger zu übertragen. Das Ermessen der Familienkasse ist dann "auf null reduziert" (§ 74 Abs. 1 Satz 3 Alt.91 EStG).

b) Im Umkehrschluss aus § 74 Abs. 1 Satz 3 Alt. 2 EStG ergibt sich andererseits, dass eine Abzweigung nicht zulässig ist, wenn die Eltern Unterhalt mindestens in Höhe des Kindergelds oder darüber hinaus leisten.

c) Erbringen die Eltern dagegen Unterhaltsleistungen, die geringer sind als das Kindergeld, ist es grundsätzlich ermessensgerecht, wenn das Kindergeld nur abzüglich der Unterhaltsleistungen der Eltern abgezweigt wird.

d) In der Praxis kommt es häufig vor, dass die Eltern keine Barleistungen aufbringen, ihnen aber gleichwohl durch Betreuungsunterhalt Aufwendungen entstehen, die sich nicht betragsmäßig beziffern lassen, z.B. durch Vorhalten eines Zimmers oder für Besuchsfahrten. Hier hält es der BFH für sachgerecht ("nicht ermessensfehlerhaft"), den Betreuungsunterhalt pauschal in der Weise zu berücksichtigen, dass nur die Hälfte de...

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