Leitsatz

Ein Verweisungsbeschluss, der unter Verstoß gegen den Grundsatz der sog. perpetuatio fori (Grundsatz der fortdauernden Zuständigkeit des einmal angerufenen Gerichts) ergeht, kann wegen offensichtlicher Fehlerhaftigkeit unwirksam sein.

 

Normenkette

§ 70 FGO , § 39 Abs. 1 Nr. 4 FGO , § 39 Abs. 2 FGO , § 17 GVG , § 17a GVG , § 17b GVG

 

Sachverhalt

Der Kläger erhob beim FG A Klage gegen das FA X, mit der er sich gegen einen von diesem FA erlassenen Haftungsbescheid wendete. Darin wurde er als Entleiher im Rahmen einer Arbeitnehmerüberlassung nach § 42d Abs. 6 EStG wegen rückständiger LSt in Anspruch genommen. Verleiher war eine Firma mit Sitz in Bulgarien.

Nach Anhörung der beiden Beteiligten und gegen deren Auffassung verwies der zuständige Senat des FG A den Rechtsstreit an das FG B. Zur Begründung führte das verweisende FG im Wesentlichen aus, mit dem Gesetz zur Eindämmung der illegalen Betätigung im Baugewerbe vom 30.8.2001 (BGBl I, 2267, BStBl I 2001, 602) sei ein gesetzlicher Parteiwechsel eingetreten. Durch Art. 6 des genannten Gesetzes i.V.m. § 20a AO 1977 sowie § 1 Abs. 1 Nr. 2 der Verordnung über die örtliche Zuständigkeit für die Umsatzsteuer im Ausland ansässiger Unternehmer sei die Zuständigkeit für die Besteuerung von Werkvertragsunternehmen mit Sitz der Geschäftsleitung in Bulgarien zentral dem FA I übertragen worden; dies gelte auch hinsichtlich des LSt-Abzugs und einer damit zusammenhängenden Haftung. Aufgrund des gesetzlichen Parteiwechsels sei auch die Zuständigkeit des FG B begründet worden.

Das FG B verwies den Rechtsstreit an das FG A zurück. Der Beschluss des FG A sei offensichtlich rechtsfehlerhaft, weil er im Gesetz keine Rechtsgrundlage finde. Das FG A rief daraufhin den BFH an, um das zuständige FG zu bestimmen.

 

Entscheidung

Der BFH hat bestimmt, dass das FG A zuständig ist. Dessen Verweisungsbeschluss sei nicht bindend gewesen. Die Rückverweisung durch das FG B sei (deshalb) zu Recht erfolgt.

Es könne offen bleiben, ob ein gesetzlicher Beklagtenwechsel stattgefunden habe. Selbst wenn dies der Fall wäre, berühre ein solcher Wechsel die einmal begründete Zuständigkeit des FG A nicht. Ein gesetzlicher Beklagtenwechsel stelle weder eine Änderung des Streitgegenstands noch eine Klageänderung dar. Die Auffassung des FG A, der Grundsatz der sog. perpetuatio fori finde im Finanzgerichtsprozess keine Anwendung, sei offensichtlich nicht haltbar und stelle eine willkürliche Verlagerung des gesetzlichen Richters dar.

 

Hinweis

1. Die Besprechungsentscheidung betrifft einen Zuständigkeitskonflikt (sog. negativer Kompetenzkonflikt) zwischen zwei Finanzgerichten, der durch einschlägige Regelungen eigentlich ausgeschlossen ist bzw. sein sollte. Nach § 70 Satz 1 FGO gelten (für die sachliche und örtliche Zuständigkeit) die §§ 17 bis 17b des Gerichtsverfassungsgesetzes (GVG)entsprechend. In § 17 Abs. 1 Satz 1 GVG ist ein althergebrachter Grundsatz des gesamten deutschen Prozessrechts enthalten, nämlich: Die Zulässigkeit des beschrittenen Rechtswegs wird durch eine nach Rechtshängigkeit eintretende Veränderung der sie begründenden Umstände nicht berührt. Die entsprechende Anwendung dieses Grundsatzes der sog. perpetuatio fori bzw. des Kontinuitätsgrundsatzes für einen Finanzgerichtsprozess bedeutet, dass die zur Zeit der Rechthängigkeit einmal vorhandene sachliche/örtliche Zuständigkeit des FG fortbesteht und durch eine spätere Veränderung der sie begründenden Umstände nicht mehr verloren gehen kann.

2. Durch diesen Kontinuitätsgrundsatz soll verhindert werden, dass bei jeder Änderung eines die Zuständigkeit begründenden Umstands ein neues Gericht mit dem Rechtsstreit befasst wird. Dies soll zum einen die Kapazitäten der Justiz schonen und zum anderen den Rechtssuchenden vor Verzögerungen und Verteuerungen des Prozesses bewahren. Das bisherige Gericht soll nicht wertlos gearbeitet haben. Der Kontinuitätsgrundsatz schließt demnach in aller Regel einen weiteren Zuständigkeitsstreit aus.

Allerdings ist zu beachten, dass ein Gericht seine Zuständigkeit im Fall einer Änderung des Streitgegenstands (Klageänderung) stets neu prüfen muss. Insoweit setzt sich der Besprechungsbeschluss kritisch mit Ausführungen des V. Senats des BFH auseinander, der im Beschluss vom 9.11.2004, V S 21/04, BFH-PR 2005, 117 angeführt hatte, der Wechsel des Beklagten stelle eine Änderung des Streitgegenstands dar (vgl. hierzu auch BFH, Beschluss vom 25.1.2005, I R 87/04, BFH-PR 2005, 304).

3. Erklärt sich ein FG aus bestimmten Gründen für nicht zuständig, verweist es den Prozess (über steuerliche Angelegenheiten) an das andere (zuständige) FG. Eine Abweisung der Klage mangels Zuständigkeit scheidet aus. Der nach § 70 Abs. 2 FGO unanfechtbare Beschluss bindet das angewiesene FG (vgl. § 17a Abs. 1 GVG). Auch sachlich fehlerhafte Verweisungsbeschlüsse binden das angewiesene Gericht und erlauben grundsätzlich keine weitere Nachprüfung.

4. Die Bindungswirkung entfällt nur ausnahmsweise, namentlich bei einer Verletzung des rechtlichen Gehörs od...

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