Rz. 62

Nach der früheren Handhabung war ein Bilanzansatz erst dann fehlerhaft, wenn er sowohl objektiv gegen handels- oder steuerrechtliche Bilanzierungsvorschriften verstoßen hat, als auch subjektiv der Steuerpflichtige diesen Verstoß bei pflichtgemäßer und gewissenhafter Prüfung im Zeitpunkt der Bilanzerstellung hätte erkennen können.[1] Erforderlich war demnach das kumulative Vorliegen einer subjektiven und einer objektiven Komponente, wobei dieses subjektive Element sowohl für Tatsachen als auch für Rechtsfragen maßgebend war (sog. normativ-subjektiver Fehlerbegriff).[2] Während das subjektive Element zunächst nur zur Beurteilung tatsächlicher Verhältnisse herangezogen wurde,[3] wurde es später auch auf Rechtsfragen ausgedehnt.[4] Im Ergebnis sollte im Falle einer noch nicht höchstrichterlich entschiedenen Rechtsfrage jede der kaufmännischen Sorgfalt entsprechende Bilanzierung subjektiv richtig sein.[5]

 

Rz. 63

Folge dieses subjektiven Fehlerbegriffsverständnisses war zunächst, dass dem Steuerpflichtigen trotz späterer objektiver Fehlerhaftigkeit der Bilanz eine Berichtigung versagt wurde, wenn seine Bilanz im Zeitpunkt ihrer Aufstellung subjektiv richtig war. Ob auch die Finanzverwaltung an diese subjektiv richtige Bilanzierung des Steuerpflichtigen gebunden sein sollte, wurde in der Literatur zwar überwiegend als zu weitgehend empfunden, teils aber auch bejaht.[6] Eine Bindung der Finanzverwaltung an die subjektiv richtige Bilanzierung des Steuerpflichtigen würde jedoch zu einer Einschränkung ihrer Prüfungskompetenz führen.[7] Dies hat auch der I. Senat des BFH, der die Rechtsprechung zum subjektiven Fehlerbegriff maßgeblich mitgeprägt hat, erkannt; folglich hat er dem Großen Senat wegen grundsätzlicher Bedeutung gemäß § 11 Abs. 4 FGO die Frage vorgelegt, ob das Finanzamt im Rahmen der ertragsteuerlichen Gewinnermittlung in Bezug auf zum Zeitpunkt der Bilanzaufstellung ungeklärte bilanzrechtliche Rechtsfragen an die Auffassung gebunden ist, die der vom Steuerpflichtigen aufgestellten Bilanz zu Grunde liegt, wenn diese Rechtsauffassung aus der Sicht eines ordentlichen und gewissenhaften Kaufmanns vertretbar war.[8]

 

Rz. 64

Der Große Senat des BFH hat mit Beschluss vom 31.1.2013 den subjektiven Fehlerbegriff hinsichtlich bilanzieller Rechtsfragen aufgegeben und entschieden, dass das Finanzamt im Rahmen der ertragsteuerlichen Gewinnermittlung auch dann nicht an die rechtliche Beurteilung, die der vom Steuerpflichtigen aufgestellten Bilanz zugrunde liegt, gebunden ist, wenn diese Beurteilung aus der Sicht eines ordentlichen und gewissenhaften Kaufmanns im Zeitpunkt der Bilanzaufstellung vertretbar war, wobei dies auch für eine zu diesem Zeitpunkt von Verwaltung und Rechtsprechung so praktizierte, später aber geänderte Rechtsauffassung maßgebend sei.[9] Letzteres wird dabei in Teilen der Literatur (auch im Hinblick auf etwaige Zinsfolgen für den Steuerpflichtigen; §§ 233 a238 AO) als zu weitgehend empfunden, da vom Steuerpflichtigen keine bessere Rechtskenntnis als von einem fachkundigen Kollegialgericht erwartet werden könne.[10] Da der Große Senat nur in Bezug auf zum Zeitpunkt der Bilanzaufstellung ungeklärte Rechtsfragen kontaktiert wurde, geht er zum Zwecke der Rechtsfortbildung nach § 11 Abs. 7 Satz 1 FGO insoweit über die vorgelegte Frage hinaus, als er den subjektiven Fehlerbegriff nicht bloß für im Zeitpunkt der Bilanzaufstellung ungeklärte Rechtsfragen aufgibt, sondern grundsätzlich für alle (was nicht nur die erstmals ergehende Rechtsprechung, sondern auch Rechtsprechungsänderungen impliziert),[11] sodass das Vorrecht des Entscheidungsträgers insoweit umfassend ist.[12]

 

Rz. 65

Eine Bindung an eine objektiv unrichtige Bilanz lasse sich weder aus § 5 Abs. 1 Satz 1 EStG noch aus § 4 Abs. 2 EStG ableiten; demnach könne es auch dahinstehen, ob der subjektive Fehlerbegriff zu den Grundsätzen ordnungsmäßiger Buchführung zähle, da ein solcher handelsrechtlicher Grundsatz ordnungsmäßiger Buchführung gegenüber einer Steuerfestsetzung auf der Grundlage der jeweils maßgebenden steuerrechtlichen Vorschriften nachrangig sei.[13] Eine andere Auffassung wäre daher Ergebnis einer unzutreffenden Auslegung des Maßgeblichkeitsgrundsatzes,[14] der somit (erneut) relativiert wird.[15] Hintergrund dessen ist wohl der Gedanke, dass andernfalls über die Maßgeblichkeit die subjektive Sicht das objektive Recht verdrängen würde, ohne dass es dafür eine hinreichende Rechtsgrundlage gäbe.[16] Es stehe demnach nicht im Ermessen des Kaufmanns, infolge handelsrechtlicher Bilanzierungsmöglichkeiten die Leistungsfähigkeit mit steuerlicher Wirkung unzutreffend darzustellen; dem Kaufmann soll folglich kein Wahlrecht eingeräumt werden, an das das Finanzamt später gebunden ist.[17] Vor diesem Hintergrund nimmt der Große Senat auch Bezug auf den bekannten alten "Wahlrechts-Beschluss" aus dem Jahr 1969.[18] Vielmehr soll, um eine gleichmäßige Besteuerung zu gewährleisten, der Periodengewinn so ermittelt werden, wie er sich aus den steuerlic...

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