Entscheidungsstichwort (Thema)

Bei eindeutigen Erklärungen des Steuerpflichtigen beruht die Nichtkenntnis des FA über steuererhöhende Tatsachen nicht auf einer Verletzung der Aufklärungspflicht

 

Leitsatz (NV)

1. Macht der Steuerpflichtige in seinen Steuererklärungen eindeutige Angaben, so kann die Finanzbehörde von deren Richtigkeit ausgehen, ohne besondere Ermittlungen anstellen zu müssen.

2. Bestehen keine Zweifel an den Angaben des Steuerpflichtigen, so kann sich dieser im Rahmen des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 nicht darauf berufen, das FA habe eine Umsatzsteuer-Sonderprüfung durchführen oder die Umsatzsteuerbescheide vorläufig erlassen oder unter den Vorbehalt der Nachprüfung stellen müssen.

 

Normenkette

AO 1977 § 173 Abs. 1 Nr. 1

 

Tatbestand

Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) unterhielt in N einen Lebensmitteleinzelhandel. Dieser Ort gehörte zum Bezirk des Finanzamts E. In der Folge pachtete der Kläger von der X-Werke GmbH (künftig: GmbH) die Werkskantine, die an einer Hafenanlage gelegen war. Dort führte er in den Streitjahren 1975 und 1976 Umsätze (Essenslieferungen usw.) an die GmbH und an Dritte aus. Er gab die monatlichen Umsatzsteuer-Voranmeldungen unter der Bezeichnung ,,Gemischtwaren" bei dem Finanzamt E ab. Dabei erklärte er die Umsätze aus seinem Kantinenbetrieb unter den steuerfreien Umsätzen und fügte handschriftlich hinzu ,,Freihafen-Kantine" oder ,,Freihafen-Kantine X-Werke". Das Finanzamt E vermerkte auf den Voranmeldungen für die Monate Januar bis März und November 1975, daß es sich um nichtsteuerbare Umsätze handele. Die vom Kläger errechneten Überschüsse zahlte es aus.

Für die Jahre 1975 und 1976 gab der Kläger Umsatzsteuer-Jahreserklärungen ab, in denen er u. a. Umsätze in Höhe von 283 343 DM für 1975 und von 262 480 DM für 1976 als umsatzsteuerfrei ansah. Dem folgte das Finanzamt E bei der Umsatzsteuerveranlagung 1975. Für 1976 gab der Kläger die Umsatzsteuer-Jahreserklärung bei dem inzwischen zuständig gewordenen Finanzamt A (Beklagter und Revisionsbeklagter, Finanzamt - FA -) im Dezember 1977 ab.

Im Dezember 1977 ließ das FA bei dem Kläger eine Umsatzsteuer-Sonderprüfung für die Monate Januar bis Oktober 1977 durchführen. Dabei wurde festgestellt, daß der Kläger in seinen Rechnungen an die GmbH Umsatzsteuer offen ausgewiesen hatte. Der Prüfer vertrat die Auffassung, daß die Kantinenumsätze in den Voranmeldungen zu Unrecht als nichtsteuerbar behandelt worden seien, weil die Kantine nicht im Freihafen, sondern im Inland belegen sei.

Das FA folgte dieser Auffassung und erließ am 13. Juni 1978 einen (geänderten) Umsatzsteuerbescheid 1976 unter dem Vorbehalt der Nachprüfung. Gegen diesen Bescheid legte der Kläger Einspruch mit der Begründung ein, die Nachforderung der Umsatzsteuer auf die Kantinenumsätze sei unzulässig. Er sei vor der Eröffnung seines Betriebs beim FA gewesen. Dort habe ihm eine Sachbearbeiterin mündlich Auskunft über die mit der Betriebseröffnung zusammenhängenden steuerlichen Fragen erteilt. Danach seien die Umsätze in der Kantine steuerfrei. In seinen Voranmeldungen habe er von Anfang an darauf hingewiesen, daß es sich um Freihafenumsätze handele. Das FA hätte erkennen müssen, daß dies nicht zutreffe.

Während des Einspruchsverfahrens nahm das FA für die Streitjahre eine Betriebsprüfung vor. Danach änderte es den Umsatzsteuerbescheid 1975 gemäß § 173 Abs. 1 Nr. 1 der Abgabenordnung (AO 1977) und den Umsatzsteuerbescheid 1976 gemäß § 164 Abs. 2 AO 1977. Die Einsprüche blieben erfolglos.

Das Finanzgericht (FG) wies die Klage mit dem in den Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 1984, 383 veröffentlichten Urteil ab.

Mit der Revision trägt der Kläger vor, das FG-Urteil verstoße gegen §§ 88, 90, 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977. Das Finanzamt E sei seiner Ermittlungspflicht nicht ausreichend nachgekommen. Wenn es Anhaltspunkte für Zweifel an einer Steuererklärung habe, müsse es ermitteln. Das treffe auf den vorliegenden Fall zu. Denn die Vermerke auf den Umsatzsteuer-Voranmeldungen seien ungewöhnlich gewesen. Das Finanzamt E hätte vor Erteilung der Jahressteuerbescheide klären müssen, welche Bedeutung die ungewöhnlichen Vermerke gehabt hätten. Wenn der zuständige Sachbearbeiter ortsunkundig gewesen sei, hätte er rückfragen müssen. Der Sachbearbeiter habe indessen bedenkenlos die Vorsteuerabzüge erstattet. Umsatzsteuer-Sonderprüfungen seien auch im Interesse des Steuerpflichtigen durchzuführen; dies sei hier aber nicht geschehen. Damit habe das FA seine Ermittlungspflicht verletzt.

Das FA hätte die Umsatzsteuer 1975 jedenfalls nicht vorbehaltlos festsetzen dürfen. Die unterlassene Prüfung verbiete deshalb eine Änderung nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977. Aus den gleichen Erwägungen sei der Bescheid 1976 nicht mehr änderbar. Eine pflichtwidrig unterlassene Ermittlung könne auch gegenüber einem Vorbehaltsbescheid nicht zu Lasten des Steuerpflichtigen gehen.

Er, der Kläger, habe seine Mitwirkungspflicht nicht verletzt. Komme das FA seiner Ermittlungspflicht nicht nach, so könne es sich nicht darauf berufen, daß der Steuerpflichtige seine Pflichten verletzt habe. So aber lägen die Dinge im vorliegenden Fall. Das Finanzamt E habe die Sache einfach laufen lassen. Es hätte sich leicht feststellen lassen, daß sich sein Betrieb nicht im Freihafengebiet befinde. Wenn das FG demgegenüber meine, er hätte es ohne weiteres wissen müssen, daß der Betrieb nicht im Freihafengebiet sei, so sei dies unzutreffend.

Der Kläger beantragt, das FG-Urteil und die Einspruchsentscheidung aufzuheben und die Kantinenumsätze 1975 und 1976 weiterhin so zu behandeln wie in den Umsatzsteuervoranmeldungen, hilfsweise die Sache an das FG zurückzuverweisen.

Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist unbegründet.

1. Zur Umsatzsteuer 1975

Nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 sind Steuerbescheide aufzuheben oder zu ändern, soweit Tatsachen oder Beweismittel nachträglich bekanntwerden, die zu einer höheren Steuer führen. ,,Tatsache" ist dabei alles, was Merkmal oder Teilstück eines gesetzlichen Steuertatbestandes sein kann, also Zustände, Vorgänge, Beziehungen und Eigenschaften materieller und immaterieller Art (vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 28. September 1984 VI R 48/82, BFHE 141, 532, BStBl II 1985, 117).

Demnach ist der Umstand, daß die Kantine des Klägers sich im Inland - und nicht im Freihafen, also im umsatzsteuerrechtlichen Ausland - befindet, eine ,,Tatsache". Diese Tatsache war dem FA zum Zeitpunkt der Umsatzsteuerveranlagung 1975 unstreitig nicht bekannt; sie ist ihm folglich erst nachträglich bekanntgeworden.

a) Allerdings wird aus dem Grundsatz von Treu und Glauben abgeleitet, daß das FA eine Tatsache, die es bei gehöriger Beachtung seiner Ermittlungspflicht (§ 204 der Reichsabgabenordnung - AO -, § 88 AO 1977) hätte aufdecken müssen, als bekannt gegen sich gelten lassen muß. Es darf indessen zunächst auf die Richtigkeit und Vollständigkeit der Angaben des Steuerpflichtigen in seinen Steuererklärungen vertrauen. Hat der Steuerpflichtige - wie hier der Kläger - eindeutige Erklärungen (,,Freihafen-Kantine") abgegeben, kann die Finanzbehörde von deren Richtigkeit ausgehen, ohne besondere Ermittlungen anstellen zu müssen (so z. B. Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 12. Aufl., § 173 AO 1977 Tz. 28, 5215). Ein FA braucht also insbesondere Steuererklärungen nicht argwöhnisch bis in alle Einzelheiten zu prüfen; die Anforderungen an seine Ermittlungspflicht dürfen nicht überspannt werden. Das FA muß sich deshalb nur solche Tatsachen als bekannt zurechnen lassen, die es aufgrund konkreter Anhaltspunkte für Zweifel an der Richtigkeit und Vollständigkeit der Steuererklärungen hätte prüfen müssen, die es aber gleichwohl nicht geprüft hat (vgl. z. B. BFH-Urteil vom 28. Januar 1970 I R 123/67, BFHE 98, 171, BStBl II 1970, 296).

Der Kläger hat auf den Umsatzsteuer- Voranmeldungen erklärt, daß er Umsätze im Freihafen und folglich nach § 1 Abs. 1 und 2 des Umsatzsteuergesetzes (UStG) 1973 nichtsteuerbare Umsätze ausgeführt habe. Nicht anders können seine Vermerke ,,Freihafen-Kantine" und ,,Freihafen- Kantine X-Werke" verstanden werden. Bei diesen zweifelsfreien Angaben brauchte das FA nicht zu prüfen, ob es sich tatsächlich um nichtsteuerbare Umsätze handelte. Das FA war zu solch einer Prüfung auch nicht deshalb veranlaßt, weil der Kläger die ,,Freihafen"-Umsätze unter den ,,steuerfreien" deklarierte. Denn es war eindeutig, was der Kläger mit seinen Vermerken in den Voranmeldungen aussagen und bezwecken wollte: daß aus den ,,Freihafen"-Umsätzen keine Umsatzsteuer entstehe.

Es trifft demnach nicht zu, daß das FA seine Ermittlungspflicht verletzt habe, zumal ,,Freihafen"-Umsätze, wie sie der Kläger erklärt hatte, im Bezirk des FA nicht außergewöhnlich sein dürften und ein FA von einem Steuerpflichtigen - wie das FG zutreffend ausführte - erwarten kann, daß er selbst weiß und zutreffend erklärt, ob er innerhalb oder außerhalb des Freihafengeländes Umsätze ausführt.

b) Der Kläger meint weiter, das FA habe bei der gegebenen Sachlage früher eine Umsatzsteuer-Sonderprüfung durchführen müssen; da es dies nicht getan habe, habe es den Sachverhalt nicht vollständig ermittelt; deshalb könne es sich nicht mehr auf später erkannte neue Tatsachen berufen. Auch mit diesem Einwand kann der Kläger keinen Erfolg haben. Denn ein Steuerpflichtiger hat keinen Anspruch auf die Durchführung einer Außenprüfung (BFH-Urteile vom 13. August 1970 V R 56/67, BFHE 99, 514, BStBl II 1970, 767; vom 24. Oktober 1972 VIII R 8/69, BFHE 108, 143, BStBl II 1973, 275; vgl. auch BFH-Urteil vom 8. November 1984 IV R 33/82, BFHE 142, 366, BStBl II 1985, 352, 2. Leitsatz). Das gilt auch für Umsatzsteuer-Sonderprüfungen. Ob und wann sie durchgeführt werden, steht weitestgehend im Ermessen des FA. Braucht es keine Zweifel an der Richtigkeit einer Steuererklärung zu haben, so ist es nicht verpflichtet, zum Zwecke der Überprüfung der Richtigkeit der Erklärung eine Außenprüfung oder eine Umsatzsteuer- Sonderprüfung anzuberaumen.

c) Das FA mußte bei dieser Sachlage die Umsatzsteuerveranlagung 1975 auch nicht vorläufig oder unter dem Vorbehalt der Nachprüfung durchführen, wie der Kläger nunmehr meint. Aus dem Ergehen endgültiger Bescheide kann nicht gefolgert werden, das FA dürfe später bekanntwerdende Tatsachen nicht mehr berücksichtigen (BFH-Urteil vom 11. Juli 1978 VIII R 120/75, BFHE 125, 488, BStBl II 1979, 57). Nur wenn ein Steuerpflichtiger seiner Mitwirkungspflicht voll genügt und das FA trotz Zweifeln an der Richtigkeit der Erklärungen des Steuerpflichtigen eine endgültige Veranlagung durchführt, kann dem FA eine Änderung nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 verwehrt sein (vgl. BFH-Urteil vom 13. November 1985 II R 208/82, BFHE 145, 487, BStBl II 1986, 241 unter 1.; siehe auch BFH-Beschluß vom 29. Oktober 1987 V B 61/87, BFHE 151, 251, BStBl II 1988, 45). Im vorliegenden Fall brauchte das FA aber - wie bereits dargelegt - an der Richtigkeit der eindeutigen Erklärungen des Klägers, er habe ,,Freihafen"-Umsätze ausgeführt, nicht zu zweifeln.

2. Zur Umsatzsteuer 1976

Die dem FA am 8. Dezember 1977 eingereichte Umsatzsteuererklärung 1976 wirkte gemäß § 168 AO 1977 als Steuerfestsetzung unter dem Vorbehalt der Nachprüfung. Das FA änderte diese Steuerfestsetzung aufgrund der Umsatzsteuer-Sonderprüfung, die sich auf die Voranmeldungen Januar bis Oktober 1977 bezog, durch Umsatzsteuerbescheid vom 13. Juni 1978, der gemäß § 164 AO 1977 wiederum unter dem Vorbehalt der Nachprüfung erging. Während des Einspruchsverfahrens führte das FA bezüglich beider Streitjahre eine Außenprüfung durch. Es änderte daraufhin durch Steuerbescheid vom 22. Februar 1979 die Umsatzsteuerfestsetzung 1976 erneut, und zwar unter Berufung auf § 164 Abs. 2 AO 1977.

Diese Änderung war unabhängig davon möglich, ob neue Tatsachen gegeben sind oder nicht; denn die vorangegangenen Steuerfestsetzungen für das Jahr 1976 waren jeweils unter dem Vorbehalt der Nachprüfung ergangen. Sie konnten deshalb aufgehoben oder geändert werden.

Der Kläger meint, daß auch der unter dem Vorbehalt der Nachprüfung ergangene Bescheid nicht mehr habe geändert werden dürfen, weil das FA ursprünglich seiner Ermittlungspflicht nicht ausreichend nachgekommen sei. Diese Erwägungen liegen neben der Sache. Wenn ein Bescheid gerade unter dem Vorbehalt einer (späteren) Nachprüfung ergeht, so kann er nicht zur Voraussetzung haben, daß das FA bereits ausreichende und womöglich vollständige Prüfungen durchgeführt habe.

Abgesehen davon aber war das FA auch insoweit nicht verpflichtet, bei Erlaß des ursprünglichen Bescheides - und wäre er auch nicht unter dem Vorbehalt ergangen - weitere Ermittlungen anzustellen. Auf die Ausführungen zur Umsatzsteuer 1975 wird verwiesen (oben II. 1.).

 

Fundstellen

BFH/NV 1989, 69

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