Entscheidungsstichwort (Thema)
Voraussetzungen für Umsatzsteuerbefreiung eines ambulanten Pflegedienstes
Leitsatz (NV)
1. Erbringt ein Unternehmer mit angestelltem qualifiziertem Krankenpflegepersonal Behandlungspflegeleistungen, sind diese Umsätze nach § 4 Nr. 14 UStG steuerfrei.
2. In den Jahren 1989 bis 1991 ausgeführte Umsätze durch Grundpflege und hauswirtschaftliche Versorgung gegenüber pflegebedürftigen Personen sind nach Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g der Richtlinie 77/388/EWG steuerfrei, wenn der Unternehmer als Einrichtung mit sozialem Charakter anzuerkennen ist.
Normenkette
UStG 1980 § 4 Nrn. 14, 16, 18; EWGRL 388/77 Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. b, c, g
Verfahrensgang
Tatbestand
I. Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) betrieb als geprüfter Krankenpfleger in den Jahren 1989 bis 1994 mit fest angestellten Mitarbeitern und Aushilfskräften einen ambulanten Hauspflege- und Betreuungsdienst, dessen Tätigkeit in Behandlungspflege, Grundpflege und Haushaltsweiterführung besteht. Nach den Feststellungen der Lohnsteuer-Außenprüfung beschäftigte der Kläger in der Zeit vom 1. Mai 1990 bis 30. April 1991 82 Arbeitnehmer, davon 70 Aushilfskräfte, in der Zeit vom 1. Januar 1992 bis 29. Februar 1996 102 Arbeitnehmer, davon 89 Aushilfskräfte. Er betreute durchschnittlich etwa 84 Personen in unterschiedlichen Stadtteilen in H. Die gegenüber den Patienten erbrachten Leistungen rechnete er mit den Krankenkassen und den Sozialbehörden ab. Detailliertere Angaben zur Zahl der Arbeitnehmer und Patienten konnte der Kläger nicht machen.
Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt --FA--) vertrat die Auffassung, aufgrund der Struktur des Betriebes, insbesondere wegen der Zahl der Mitarbeiter und Patienten, handele es sich nicht um eine freiberufliche Tätigkeit i.S. des § 18 Abs. 1 Nr. 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG) und deshalb lägen die Voraussetzungen für die Umsatzsteuerbefreiung nach § 4 Nr. 14 des Umsatzsteuergesetzes 1980/1991 (UStG) nicht vor; er erließ deshalb für 1989 bis 1991 (Streitjahre) entsprechende Umsatzsteuerbescheide.
Die nach erfolglosem Einspruch erhobene Klage hatte keinen Erfolg. Das Finanzgericht (FG) bestätigte die Auffassung des FA. Als heilberufliche Tätigkeit i.S. des § 4 Nr. 14 UStG komme nur die Behandlungspflege in Betracht. Insoweit fehle es daran, dass der Kläger diese Tätigkeit nicht, wie nach § 4 Nr. 14 UStG i.V.m. § 18 Abs. 1 Nr. 1 EStG vorausgesetzt, eigenverantwortlich ausgeübt habe. Die Mithilfe fachlich vorgebildeter Arbeitskräfte sei nur unschädlich, wenn diese von untergeordneter Bedeutung und die persönliche Teilnahme des Berufsträgers an der praktischen Arbeit in ausreichendem Maße gewährleistet sei und ihm die Ausführung jedes einzelnen Auftrages selbst und nicht lediglich den qualifizierten Mitarbeitern oder Hilfskräften zugerechnet werden könne. Davon sei angesichts der Zahl der Mitarbeiter und der zum Teil weit auseinander wohnenden Patienten nicht auszugehen.
Mit der Revision rügt der Kläger Verletzung materiellen Rechts.
Der Kläger beantragt, die Einspruchsentscheidung und die Umsatzsteuerbescheide für 1989 bis 1991 aufzuheben.
Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Der erkennende Senat hat mit Beschluss vom 29. Oktober 2002 gemäß § 155 der Finanzgerichtsordnung (FGO) i.V.m. § 251 der Zivilprozessordnung das Ruhen des Verfahrens angeordnet bis zur abschließenden Entscheidung des Senats im Anschluss an das Urteil des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) in dem Verfahren C-141/00.
Entscheidungsgründe
II. 1. Das Verfahren wird nach Wegfall der Gründe für die Anordnung des Ruhens des Verfahrens durch das EuGH-Urteil vom 10. September 2002 Rs. C-141/00 --Ambulanter Pflegedienst Kügler GmbH-- (Slg. 2002, I-6833, Umsatzsteuer-Rundschau --UR-- 2002, 513) und das anschließende Urteil des erkennenden Senats vom 22. April 2004 V R 1/98 (BFHE 205, 514, BStBl II 2004, 849) wieder aufgenommen.
2. Die Revision ist begründet; sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 FGO). Die Vorentscheidung war aufzuheben, weil sie auf Rechtsgrundsätzen beruht, die nach der Vorabentscheidung des EuGH in Slg. 2002, I-6833, UR 2002, 513 und dem anschließenden Senatsurteil in BFHE 205, 514, BStBl II 2004, 849 keinen Bestand mehr haben können.
Für die Umsätze des Klägers durch Behandlungspflege kommt Steuerbefreiung nach § 4 Nr. 14 Satz 1 UStG in Betracht. Für die Steuerbefreiung der Umsätze durch Grundpflege und durch hauswirtschaftliche Versorgung --soweit es sich darum bei der vom Kläger (ebenfalls) durchgeführten "Haushaltsweiterführung" handelt-- kann sich der Kläger unmittelbar auf Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g der Sechsten Richtlinie des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern 77/388/EWG (Richtlinie 77/388/EWG) berufen. Der Senat kann nicht abschließend entscheiden, weil die Voraussetzungen für die einschlägigen Steuerbefreiungsvorschriften nicht vollständig aufgeklärt sind.
Behandlungspflege
Erbringt ein Krankenpfleger mit angestelltem qualifiziertem Krankenpflegepersonal Behandlungspflegeleistungen, sind diese Umsätze nach § 4 Nr. 14 UStG steuerfrei. Behandlungspflege umfasst medizinische Hilfeleistungen wie z.B. Injektionen, Verbandswechsel, Dekubitusversorgung (vgl. dazu § 37 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1 des Fünften Buches Sozialgesetzbuch --SGB V--, Gesetzliche Krankenversicherung; zu den einzelnen Leistungen vgl. Krauskopf, SGB V, § 37 Rn. 7).
Nach § 4 Nr. 14 Satz 1 UStG 1980 sind "die Umsätze aus der Tätigkeit als Arzt, Zahnarzt, Heilpraktiker, Krankengymnast, Hebamme oder aus einer ähnlichen heilberuflichen Tätigkeit im Sinne des § 18 Abs. 1 Nr. 1 des Einkommensteuergesetzes oder aus der Tätigkeit als klinischer Chemiker" steuerfrei.
a) § 4 Nr. 14 UStG 1980 beruht auf Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 77/388/EWG. Nach dieser Bestimmung befreien die Mitgliedstaaten von der Steuer: "die Heilbehandlungen im Bereich der Humanmedizin, die im Rahmen der Ausübung der von dem betreffenden Mitgliedstaat definierten ärztlichen und arztähnlichen Berufe erbracht werden". Diese Steuerbefreiung umfasst (nur) die Heilbehandlungen im Bereich der Humanmedizin, die außerhalb von Krankenanstalten im Rahmen der Ausübung der ärztlichen und arztähnlichen Berufe zum Zweck der Vorbeugung, Diagnose oder Therapie erbracht werden, nicht aber sonstige, die Grundpflege und die hauswirtschaftliche Versorgung betreffende Tätigkeiten (EuGH-Urteil in Slg. 2002, I-6833, UR 2002, 513 Rz. 41).
b) § 4 Nr. 14 Satz 1 UStG 1980 ist richtlinienkonform auszulegen; die Verweisung in § 4 Nr. 14 Satz 1 UStG 1980 auf § 18 Abs. 1 Nr. 1 EStG bezieht sich nur auf die Beurteilung der Art der Tätigkeiten, nicht aber auf die Qualifikation der Umsätze. Die Steuerbefreiung ist deshalb nicht auf die natürliche Person des jeweiligen Berufsträgers beschränkt und setzt deshalb auch --anders als § 18 Abs. 1 EStG (vgl. hierzu z.B. BFH-Urteil vom 20. Dezember 2000 XI R 8/00, BFHE 194, 206, BStBl II 2002, 478)-- nicht voraus, dass die persönliche Teilnahme des Berufsträgers selbst an der praktischen Arbeit in ausreichendem Umfang gewährleistet ist. Eine in diesem Sinn eigenverantwortliche Tätigkeit des Unternehmers selbst ist nicht erforderlich; es genügt, wenn der Unternehmer die Tätigkeit durch entsprechend qualifizierte Personen ausführen lässt (Senatsurteil in BFHE 205, 514, BStBl II 2004, 849).
c) Ob und welche Leistungen des Klägers als Behandlungspflege durch qualifiziertes Krankenpflegepersonal erbracht worden sind, ist bisher nicht geprüft worden. Nach der Rechtsauffassung des FG kam es darauf nicht an. Die Feststellungen sind nachzuholen. Für Feststellungen zur Qualifikation der Pflegekräfte kann das FG das Gesetz über die Berufe in der Krankenpflege (Krankenpflegegesetz) vom 4. Juni 1985 (BGBl I 1985, 893) und die Ausbildungs- und Prüfungsordnung für die Berufe in der Krankenpflege vom 16. Oktober 1985 (BGBl I 1985, 1973) heranziehen (BFH-Urteil in BFHE 205, 514, BStBl II 2004, 849).
Nicht examinierte Pflegekräfte sind zwar regelmäßig keine "qualifizierten" Personen. Allein das Fehlen einer berufsrechtlichen Regelung ist für sich jedoch kein Hinderungsgrund für die Befreiung der Leistungen. Vom Vorliegen eines beruflichen Befähigungsnachweises für eine ärztliche oder arztähnliche Leistung ist grundsätzlich auszugehen bei Zulassung des jeweiligen Unternehmers bzw. der regelmäßigen Zulassung seiner Berufsgruppe gemäß § 124 Abs. 2 SGB V durch die zuständigen Stellen der gesetzlichen Krankenkassen (BFH in BFHE 205, 514, BStBl II 2004, 849; Urteil vom 12. August 2004 V R 18/02, BFH/NV 2005, 313). Vergleichbares gilt für die Personen, die im Auftrag des Unternehmers und in dessen Namen die Behandlungspflege durchführen.
Grundpflege und hauswirtschaftliche Versorgung
a) Die Leistungen des Klägers durch Grundpflege und hauswirtschaftliche Versorgung --soweit es sich darum bei der vom Kläger (ebenfalls) durchgeführten "Haushaltsweiterführung" handelt-- sind nach den vorstehenden Grundsätzen deshalb nicht nach § 4 Nr. 14 UStG steuerfrei, weil es sich nicht um Heilbehandlungen i.S. von Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 77/388/EWG handelt.
b) Die Leistungen des Klägers durch Grundpflege und durch hauswirtschaftliche Versorgung sind zwar nicht nach § 4 Nr. 16 UStG steuerfrei. Denn Leistungen im Rahmen der häuslichen Krankenpflege durch Einrichtungen zur ambulanten Pflege werden erst ab 1. Januar 1992 nach § 4 Nr. 16 Buchst. e UStG 1991 steuerfrei behandelt (ausführlich Senatsurteil in BFHE 205, 514, BStBl II 2004, 849).
Der Kläger kann sich für die Steuerbefreiung seiner Leistungen durch Grundpflege und durch hauswirtschaftliche Versorgung aber unmittelbar auf Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g der Richtlinie 77/388/EWG berufen.
aa) Die Voraussetzungen dieser Vorschrift liegen vor. Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g der Richtlinie 77/388/EWG bestimmt:
"Unbeschadet sonstiger Gemeinschaftsvorschriften befreien die Mitgliedstaaten unter den Bedingungen, die sie zur Gewährleistung einer korrekten und einfachen Anwendung der nachstehenden Befreiungen sowie zur Verhütung von Steuerhinterziehungen, Steuerumgehungen und etwaigen Missbräuchen festsetzen, von der Steuer:
g) die eng mit der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit verbundenen Dienstleistungen und Lieferungen von Gegenständen, einschließlich derjenigen der Altenheime, durch Einrichtungen des öffentlichen Rechts oder andere von dem betreffenden Mitgliedstaat als Einrichtungen mit sozialem Charakter anerkannte Einrichtungen."
Leistungen der Grundpflege und der hauswirtschaftlichen Versorgung, die körperlich oder wirtschaftlich hilfsbedürftigen Personen, wie den Empfängern der Leistungen des Klägers, von einem ambulanten Pflegedienst erbracht werden, sind grundsätzlich mit der sozialen Hilfe verbunden, so dass sie unter den Begriff eng mit der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit verbundene Dienstleistungen gemäß Buchst. g dieser Bestimmung fallen (EuGH-Urteil in Slg. 2002, I-6833, UR 2002, 513). Für die Qualifikation der Pflegekräfte sind bei der Grundpflege und der hauswirtschaftlichen Versorgung geringere Anforderungen als für die Behandlungspflege zu stellen (Senatsurteil in BFHE 205, 514, BStBl II 2004, 849). Es reicht aus, wenn die Pflegekraft geeignet ist, die erforderlichen Leistungen zu erbringen.
bb) Der Kläger kann sich für die Streitjahre 1989 bis 1991 auf die Steuerbefreiung nach der der Richtlinie 77/388/EWG berufen (ausführlich Senatsurteil in BFHE 205, 514, BStBl II 2004, 849).
Allerdings räumt Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g der Richtlinie 77/388/EWG den Mitgliedsstaaten ein Ermessen in der Frage ein, ob sie bestimmten Einrichtungen sozialen Charakter zuerkennen (EuGH-Urteil in Slg. 2002, I-6833, UR 2002, 513 Rdnr. 54). Der Einzelne kann die Eigenschaft einer Einrichtung mit sozialem Charakter nicht schon dadurch erlangen, dass er sich auf diese Bestimmung beruft; vielmehr ist es Sache der nationalen Behörden, nach dem Gemeinschaftsrecht und unter der Kontrolle der nationalen Gerichte, insbesondere unter Berücksichtigung der Praxis der zuständigen Verwaltung in ähnlichen Fällen zu bestimmen, welche Einrichtungen als Einrichtungen mit sozialem Charakter i.S. von Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g der Richtlinie 77/388/EWG anzuerkennen sind (EuGH-Urteil in Slg. 2002, I-6833, UR 2002, 513 Rdnr. 55 und 57).
Dabei sind spezifische nationale oder regionale Rechts- oder Verwaltungsvorschriften, Steuervorschriften oder Vorschriften im Bereich der sozialen Sicherheit zu berücksichtigen sowie der Umstand, ob Gemeinschaften mit den gleichen Tätigkeiten wie der Kläger wegen des mit diesen Tätigkeiten verbundenen Gemeinwohlinteresses bereits in den Genuss einer ähnlichen Steuerbefreiung kommen. Auch kommt dem Umstand rechtserhebliche Bedeutung zu, ob und welche der Kosten für welche vom Kläger erbrachten Leistungen zum großen Teil von durch Gesetz errichteten Krankenkassen oder von Einrichtungen der sozialen Sicherheit übernommen werden, zu denen die privaten Wirtschaftsteilnehmer, wie der Kläger, vertragliche Beziehungen unterhalten (Senatsurteil in BFHE 205, 514, BStBl II 2004, 849, unter II. 3. b).
cc) Feststellungen dafür, ob und welche Rechts- oder Verwaltungsvorschriften zur Beurteilung des Klägers als anerkannte Einrichtung mit sozialem Charakter eingreifen können, sind bisher nicht vorhanden. Sie sind unter Berücksichtigung der im Senatsurteil in BFHE 205, 514, BStBl II 2004, 849 ausgeführten Grundsätze nachzuholen.
Fundstellen
Haufe-Index 1379213 |
BFH/NV 2005, 1392 |
HFR 2005, 1010 |
PflR 2006, 395 |