Entscheidungsstichwort (Thema)

Zur Erkennbarkeit eines Irrtums hinsichtlich der Tarifierung

 

Leitsatz (NV)

Einem Wirtschaftsteilnehmer kann die Verletzung der ihm obliegenden Informationspflicht hinsichtlich der zutreffenden tariflichen Anmeldung einer Ware dann nicht mehr vorgehalten werden, wenn die zuständige Zollstelle einen zunächst im Hinblick auf die Tarifierung vorläufig erteilten Zollbescheid auf Grund des Ergebnisses eines (unrichtigen) amtlichen Zolltarifgutachtens für endgültig erklärt und dabei ausdrücklich darauf hinweist, daß nach dem Untersuchungsergebnis die angemeldete und dem Zollbescheid zugrunde gelegte Tarifierung richtig sei.

 

Normenkette

NacherhebungsVO Art. 5 Abs. 2; AO 1977 § 153

 

Verfahrensgang

FG Berlin

 

Tatbestand

Das beklagte und revisionsklagende Hauptzollamt (HZA) forderte im Wege einer zentralen Nacherhebung von der Klägerin und Revisionsbeklagten (Klägerin) Zoll nach. Der Nachforderung lag u.a. eine Einfuhrsendung von Spinnfasern-Abschnitten im November 1984 zugrunde, welche die Klägerin als synthetische Spinnfasern (Polyvinylalkohol), weder gekrempelt noch gekämmt, Codenummer 5601 180 30 (= Tarif-Nr. 56.01 A) beim HZA Y zum freien Verkehr angemeldet hatte. Die Zollstelle hatte die Waren antragsgemäß ohne Beschau abgefertigt und wegen einer für Waren dieser Codenummer im Jahre 1984 bestehenden Zollaussetzung zollfrei belassen. Zur Nachforderung kam es, als eine Betriebsprüfung ergeben hatte, daß die eingeführten Waren in Befolgung des Urteils des EuGH vom 16. Oktober 1980 Rs. 816/79 (EuGHE 1980, 3029) wegen ihres kurzen Zuschnitts als Scherstaub aus synthetischen Spinnstoffen der Tarif-Nr. 59.01 B I (Codenummer 5901 210 90) hätten zugewiesen werden müssen. Die Klägerin machte geltend, der Irrtum der Zollstelle sei für sie nicht erkennbar gewesen, zumal das HZA Y noch im August 1984 die unrichtige Tarifierung dadurch bestätigt habe, daß es aufgrund eines anläßlich einer früheren Einfuhr der gleichen Ware eingeholten Gutachtens der zuständigen ZPLA den hinsichtlich jener Einfuhr ursprünglich vorläufig erteilten Zollfreistellungsbescheid unter ausdrücklichem Hinweis auf die nach dem Untersuchungsergebnis für richtig befundene Tarifierung für endgültig erklärt habe.

Das FG folgte diesem Vorbringen und gab der nach erfolglosem Einspruch erhobenen Klage statt. Die auf Verletzung materiellen Rechts gestützte Revision des HZA blieb insoweit (s. dazu die Anmerkung) ohne Erfolg....

...

4. a) Für die Beurteilung der Frage, ob ein Irrtum vom Abgabenschuldner nach Art. 5 Abs. 2 NacherhebungsVO nicht erkannt werden konnte, bedarf es nach der einschlägigen Rechtsprechung des EuGH (vgl. das auf Vorlage des Senats ergangene Urteil des EuGH vom 26. Juni 1990 Rs. C-64/89,EuGHE 1990, I-2535, 2557 Abs. 18, 19; bestätigt mit Urteil vom 1. April 1993 Rs. C-250/91, RIW 1993, 599 Leitsatz 2), der der Senat folgt (vgl. BFHE 169, 269, 277), einer konkreten Beurteilung aller Umstände des Einzelfalles (Gesamtbetrachtung: vgl. Senat, Beschluß vom 15. Dezember 1992 VII B 123/92, BFH/NV 1994, 65), wobei namentlich die Art des Irrtums, die Erfahrung und die Sorgfalt des Beteiligten zu berücksichtigen sind. Der Inhalt dieser - nicht abschließenden - Kriterien unterliegt einer Konkretisierung durch die Gerichte im Einzelfall.

b) Die Entscheidung des FG hält sich im Rahmen der vorgegebenen Kriterien; seine Rechtsanwendung ist nicht zu beanstanden. Der Senat ist mit dem FG zunächst der Ansicht, daß es sich bei dem Irrtum des HZA Y, geleitet von dem Tarifgutachten der ZPLA, um einen einfachen, weil nämlich groben Irrtum der Zollstelle handelte, denn jedenfalls nach dem Urteil des EuGH vom 16. Oktober 1980 in der Rs. 816/79 war die Rechtslage objektiv klar. Bereits auf Grund des Leitsatzes stand fest: Abschnitte aus synthetischen Spinnfasern in der Länge von 6 bis 7 mm fallen als Scherstaub aus synthetischen Spinnstoffen unter die Tarifstelle 59.01 B I des Gemeinsamen Zolltarifs.

Bei dieser Sachlage war der behördliche Irrtum für die Klägerin, die eine langjährige Erfahrung bei der Einfuhr von Spinnstoffasern hatte, an sich ohne weiteres erkennbar. Zur zumutbaren Informationspflicht eines solchen Wirtschaftsteilnehmers gehört es jedenfalls, was auch das FG nicht in Abrede stellt, sich anhand der allgemein zugänglichen Rechtsquellen, Amtsblätter und Fachveröffentlichungen über die zutreffende Tarifierung zu unterrichten (vgl. EuGH, Urteil vom 12. Juli 1989 Rs. 161/88, EuGHE 1989, 2415, 2439, Abs. 22 der Gründe). Da das einschlägige EuGH-Urteil mit seinem Leitsatz bereits im ABlEG 1980 C 297/2 und mit seinem übrigen wesentlichen Inhalt bereits im Laufe des Jahres 1981 in verschiedenen Fachzeitschriften und auch in VSF ZT 07 01 veröffentlicht worden ist, hat die Klägerin die ihr obliegende Informationspflicht verletzt und sich damit sorgfaltswidrig verhalten.

Allerdings ist dem FG darin beizupflichten, daß nach den gesamten Umständen des Falles der Klägerin sorgfaltswidriges Verhalten nicht auf Dauer vorgehalten werden kann. So wie eine Pflichtwidrigkeit durch eigenes Verhalten des Pflichtigen (etwa durch nachträgliche Erkundigungen) ein Ende finden kann, können auch von außen kommende Umstände die einmal eingetretene Pflichtwidrigkeit relativieren oder gar völlig beseitigen. So liegt der Fall hier. Erklärt die zuständige Zollstelle einen zunächst im Hinblick auf die Tarifierung vorläufig erteilten Zollbescheid später auf Grund des Ergebnisses eines von der ZPLA eingeholten Gutachtens für endgültig und weist sie dabei ausdrücklich darauf hin, daß nach dem Untersuchungsergebnis die angemeldete und dem Zollbescheid zugrunde gelegte Tarifierung richtig sei, braucht auch ein erfahrener Wirtschaftsteilnehmer wie die Klägerin keine Zweifel mehr an der Richtigkeit der Handhabung der Tarifierung durch die Zollstelle zu hegen.

Das FG hat die Bestätigung der unzutreffenden Tarifauffassung durch das HZA Y zu Recht als ein das vorwerfbare Verhalten der Klägerin überholendes Ereignis gewertet. Vom Zeitpunkt dieser Bestätigung an bis zur Kenntnisnahme der Klägerin von dem maßgeblichen EuGH-Urteil durch einen Steuerbescheid des HZA X in anderer Sache war für die Klägerin der Irrtum des HZA Y nicht erkennbar. Daher ist das Vertrauen der Klägerin in den Bestand des Zollfreistellungsbescheids des HZA Y schützenswert.

c) Die hiergegen gerichteten Einwände der Revision greifen nicht durch.

Soweit die Revision eine zeitlich frühere Kenntnis der Klägerin von dem EuGH-Urteil behauptet, steht dies im Widerspruch zu den Feststellungen des FG, an die der Senat gebunden ist, weil hiergegen zulässige und begründete Revisionsrügen nicht erhoben worden sind (§ 118 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung - FGO -) ...

Fehl geht auch die Forderung des HZA, die Klägerin hätte bei einer solchen Sachlage, um sich abzusichern, eine verbindliche Zolltarifauskunft einholen müssen. Das FG hat richtig erkannt, daß für ein solches, nach dem früheren innerstaatlichen Recht regelmäßig begründetes Verlangen (vgl. etwa Senatsurteil vom 9. März 1982 VII R 16/80, BFHE 135, 561) unter der Geltung der NacherhebungsVO (seit 1. Juli 1980) in der Regel kein Raum mehr ist, da sonst dem Art. 5 Abs. 1 erster Gedankenstrich NacherhebungsVO - Ausschluß der Nacherhebung bei die Zollbehörden bindenden Auskünften, wozu auch eine verbindliche Zolltarifauskunft zählt - insoweit keine eigenständige Bedeutung mehr zukäme. Soweit der Senat in nach dem Gemeinschaftsrecht entschiedenen Fällen beiläufig das Verlangen nach einer verbindlichen Zolltarifauskunft erwähnt hat (z.B. BFH/NV 1992, 285, 286; BFH/NV 1992, 496, 498) war dies nicht als unverzichtbare Notwendigkeit zu verstehen, sondern betraf lediglich einen bei der jeweiligen Einhaltung der Sorgfaltspflicht in Erwägung zu ziehenden Prüfungspunkt.

Schließlich war die Klägerin auch nicht nach § 153 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 oder Abs. 2 AO 1977 verpflichtet, ihre Zollanmeldung vom 27. November 1984 hinsichtlich der Tarifierung zu berichtigen, nachdem sie vom EuGH-Urteil Kenntnis erlangt hatte. Eine Berichtigungspflicht entsteht nach dieser Vorschrift nicht, wenn unabhängig von der Erklärung des Steuerpflichtigen der Finanzbehörde Irrtümer oder Fehler unterlaufen (vgl. Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 14. Aufl., Stand: Juni 1989, § 153 AO 1977 Tz. 3). Da die falsche Tarifierung, wie ausgeführt, als Irrtum des zuständigen HZA Y zu werden ist, brauchte die Klägerin diese Behörde nicht auf deren eigenen Irrtum zu ihrer - der Klägerin - Lasten hinzuweisen.

5. Auch die dritte Voraussetzung für eine Abstandnahme von der Nacherhebung ist erfüllt. Die Klägerin hat alle geltenden Bestimmungen betreffend die Zollerklärung beachtet. Dieses Erfordernis gilt als erfüllt, wenn ein Wirtschaftsteilnehmer eine Ware guten Glaubens unter einer falschen Tarifposition angemeldet hat, sofern diese klar und deutlich mit der Bezeichnung der betreffenden Ware aufgeführt war, so daß die zuständige Zollbehörde sofort und zweifelsfrei die fehlende Übereinstimmung mit der richtigen Tarifposition hätte feststellen müssen (EuGH, RIW 1993, 599 Leitsatz 4). Dies muß erst recht gelten, wenn, wie im Streitfall, die Tarifangabe im Grunde stimmig und nur deshalb unzutreffend ist, weil die Kunststoffasern allein wegen ihrer nicht ausreichenden Schnittlänge unter eine andere Tarifposition fallen. Jedenfalls hat die Klägerin die unrichtige Tarifangabe gutgläubig gemacht, da sie unter den genannten Umständen vernünftigerweise nur diese Angabe machen konnte (vgl. EuGHE 1991, I-3277, 3309, Abs. 30 der Gründe).

6. Der Senat hält die richtige Anwendung des Art. 5 Abs. 2 NacherhebungsVO, so wie sie hier vorgenommen worden ist, für offenkundig. Er ist daher nicht nach Art. 177 Abs. 3 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft zur Einholung einer Vorabentscheidung des EuGH verpflichtet (vgl. EuGH-Urteil vom 6. Oktober 1982 Rs. 283/81, EuGHE 1982, 3415).

 

Fundstellen

BFH/NV 1994, 672

BFHE 1994, 561

BB 1994, 59

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