Leitsatz

Die Grundsätze rechtsstaatlichen Vertrauensschutzes sind nicht dadurch verletzt, dass nach der Rechtsprechung des BFH im Zug der saldierenden Fehlerberichtigung gem. § 177 Abs. 2 AO bis dahin nicht ausgewertete Grundlagenbescheide zu berücksichtigen sind, deren Auswertung ansonsten wegen Ablaufs der Festsetzungsfrist bezüglich der betroffenen Folgesteuer nicht mehr zulässig wäre.

 

Normenkette

Art. 2 Abs. 1, Art. 20 Abs. 3 GG, § 171 Abs. 10, § 177 Abs. 2 und 3 AO

 

Sachverhalt

Der BFH hatte sich im Urteil vom 09.08.2006, II R 24/05 (BFH/NV 2006, 2315, BFH/PR 2006, 67) mit der Frage zu befassen, wieweit die Befugnis zur Fehlerberichtigung nach § 177 Abs. 2 AO reicht und was als Fehler i.S.d. Vorschrift anzusehen ist. Gegen dieses Urteil hat die Klägerin Verfassungsbeschwerde eingelegt und gerügt, die Auslegung der Vorschrift durch den BFH genüge nicht dem durch Art. 20 GG gebotenen Maß an Vertrauensschutz und verletze daher den Bürger in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG. Sie bewirke einen Eingriff in den bereits der Vergangenheit angehörenden Tatbestand der Festsetzungsverjährung. Übertragen auf Gesetzesänderungen komme dies einer echten Rückwirkung gleich.

 

Entscheidung

Die Verfassungsbeschwerde wurde nicht zur Entscheidung angenommen.

 

Hinweis

1. Nach Auffassung des BFH ist ein saldierungsfähiger materieller Fehler i.S.d. § 177 Abs. 3 AO auch dann gegeben, wenn das FA einen Grundlagenbescheid nicht rechtzeitig ausgewertet hat und daher durch die Vorschriften über die Festsetzungsverjährung an einer Auswertung gehindert ist.

2. Die Berücksichtigung verjährter Besteuerungsgrundlagen ist angesichts der weiten Fassung des materiellen Fehlerbegriffs in § 177 AO nicht willkürlich, auch wenn dort diese Frage nicht ausdrücklich angesprochen wird. Dies hat das BVerfG in dem o.a. Beschluss festgestellt.

3. Die Berücksichtigung derartiger Besteuerungsgrundlagen ist – so das BVerfG – auch unter dem Gesichtspunkt des rechtsstaatlich gebotenen Vertrauensschutzes nicht zu beanstanden. Prüfungsmaßstab sind dabei nicht die verfassungsrechtlichen Vorgaben für die Zulässigkeit rückwirkender Gesetze, sondern ist der auch bei der Steuererhebung zu gewährleistende (mindere) Vertrauensschutz. Die dem Gesetzgeber zukommende Funktion, Steuerungsinstrument für das Verhalten von Verwaltung und Bürgern zu sein, erfordert einen besonderen Schutz des Vertrauens in den Bestand und die Verlässlichkeit der Gesetzeslage, und zwar insbesondere insoweit, als sich vergangenes Verhalten an ihr ausgerichtet hat.

4. Anders als bei rückwirkenden Gesetzesänderungen geht es bei behördlichen Einzelfallentscheidungen aber um den in seinen Grundzügen dem Gesetzgeber vorbehaltenen Ausgleich zwischen dem Grundsatz der Rechtssicherheit in Form des Vertrauens auf den Bestand einer gefällten Behördenentscheidung und einem Korrekturbedarf wegen der im Nachhinein erkannten Fehlerhaftigkeit dieser Entscheidung.

5. Der gebotene Vertrauensschutz führt dabei nicht in jedem Fall dazu, dass die einmal erworbene Position ungeachtet der materiellen Rechtslage Bestand haben muss. Erforderlich ist vielmehr eine an den Kriterien der Verhältnismäßigkeit und der Zumutbarkeit im Einzelfall auszurichtende Prüfung, ob jeweils das Allgemeinwohl – so etwa die Wiederherstellung der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung – oder die Interessen des Einzelnen am Fortbestand der Rechtslage, auf die er sich eingerichtet hat und auf deren Fortbestand er vertraut, den Vorrang verdienen.

6. Was die Berücksichtigung bereits anpassungsverjährter Grundlagenbescheide im Rahmen der Fehlersaldierung nach § 177 AO anbelangt, fällt die Prüfung zugunsten der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung aus. Die vom Beschwerdeführer im konkreten Fall bemängelte BFH-Entscheidung ist nicht neu und kann sich auf eine herrschende Auffassung in Rechtsprechung und Literatur berufen. Der Beschwerdeführer hatte auch nicht vorbringen können, aufgrund der gegenteiligen Rechtsansicht bestimmte Dispositionen getroffen zu haben. Auch ist das Maß, in dem das Vertrauen des Steuerpflichtigen auf den Schutz durch die Verjährungsvorschriften enttäuscht wird, bei § 177 AO von vornherein durch den Umfang derjenigen Änderung beschränkt, die Auslöser für die nach § 177 AO vorzunehmende Fehlersaldierung gewesen ist. Denn § 177 AO ist selbst keine Korrekturvorschrift, sondern begrenzt lediglich die Wirkung von nach anderen Vorschriften vorzunehmender Korrekturen.

 

Link zur Entscheidung

BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 10.06.2009 – 1 BvR 571/07

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