Controlling in der Selbstorganisation

Klassische Controlling-Ansätze stellen die Rationalitätssicherung in das Zentrum der Controllingarbeit und folgen dem Wenn-dann-Prinzip der Steuerung. Controller in der Selbstorganisation dagegen gehen davon aus, dass sich komplexe soziale Systeme wie Unternehmen nicht in einer gradlinigen Ursache-Wirkungsbeziehung von außen »steuern« lassen. Andreas Lerche stellt die verschiedenen Denkrichtungen gegenüber und plädiert für eine Perspektivenänderung im Controlling.

Selbstorganisierten, Purpose-orientierte Unternehmen erfordern ein neues Steuerungsverständnis

Selbstorganisierte Organisationsformen gewinnen in Unternehmen unterschiedlichster Branchen und Größen zunehmend an Relevanz. Vereinfacht ausgedrückt, geht es in selbstorganisierten Unternehmen oder Abteilungen weniger hierarchisch zu. Führungsverantwortung verteilt sich zwischen den einzelnen Rollen und wird im Zeitverlauf auch wieder abgegeben. Einzelne Rollen werden zu Kreisen zusammengefasst. Die Steuerung erfolgt durch die Festlegung eines Rahmens für autonomes Arbeiten: gemeinsame Regeln, Strukturen und Prozesse bleiben nach wie vor unerlässlich für das Funktionieren einer Organisation. Gleichzeitig wird erkannt, dass der Rahmen nicht mehr von einer zentralen, hierarchischen Spitze vorgegeben werden kann, um dauerhaft auf Akzeptanz zu stoßen. Ein weiteres bedeutendes Merkmal solcher Organisationen besteht darin, dass sie sich intensiv mit dem Sinn ihres Bestehens und ihres Handelns auseinandersetzen. Sowohl in Theorie als auch in der Praxis hat sich daher der Begriff der »Purpose Driven Organization« etabliert.

Das Controlling findet sich in selbstorganisierten Unternehmen in deutlich veränderten Rahmenbedingungen wieder: Ein grundsätzlich anderes Verständnis von Unternehmenssteuerung ist hier nun gefragt.

Recap: Das Organisationsverständnis im klassischen Controlling

Klassische Controlling-Ansätze legen den Fokus primär auf die traditionelle betriebswirtschaftliche Zweckmittelrelation, in der an einer hierarchischen Spitze Ziele erdacht werden, die dann in der Hierarchie nach unten gebrochen werden. Im Idealbild der zweckrational durchgetakteten Organisationsmaschine passiert nichts, was nicht im Vorhinein gedacht und geplant wurde. Auch wenn Soziologinnen schon seit geraumer Zeit drauf hinweisen, dass es sich bei der betriebswirtschaftlichen Zweckrationalität um einen »Mythos« (Luhmann, 2000, S. 16) oder gar um eine »problematische Beobachtungsformel« (Baecker, 1994, S. 93f) handelt, kann sich das Controlling und die BWL bis zum heutigen Tage nur sehr mühsam von dieser Grundannahme lösen. Die praktischen Folgen der zu strickten Zweckrationalität liegen auf der Hand: Der Fokus verschiebt sich von der »Normalität in die Abweichung« (Luhmann, 2000, S. 77). Das Beobachten und Analysieren von Differenzen zum zuvor erdachten Soll-Zustand wird zur Daueraufgabe des Controllings.

Die klassische Controlling-Theorie und wohl auch viele Praktikerinnen beobachten Unternehmen als aus Menschen bestehende Handlungssysteme. Da kaum mehr ernsthaft ignoriert werden kann, dass Menschen in seltenen Fällen nach den strengen Vorschriften der Zweck-Mittel-Rationalität handeln, wird die Rationalitätssicherungsaufgabe kurzerhand zur Aufgabe eine Controlling-Funktion erklärt: »Umfang und Ausprägung der Rationalitätssicherungsaufgabe werden von Umfang und Ausprägung der Rationalitätsdefizite der Führung bestimmt« (Weber & Schäffer, 2020, S. 60).

Neue Perspektive: Unternehmen = komplexe soziale Systeme

Ganz anders blickt man in selbstorganisiert arbeitenden Purpose Driven Organizations auf den Gegenstand der Steuerungsbemühungen (Abbildung 1).

Abb. 1: Organisationsverständnis im klassischen Controlling vs. in der Selbstorganisation

In Übereinstimmung mit soziologisch-systemtheoretischen Ansätzen werden Organisationen als Abfolge von Kommunikationsereignissen beobachtet. Organisationen bestehen aus Kommunikationen und grenzen sich fortwährend gegenüber ihren Umwelten ab. Auch hier wird unterschieden. Aber nicht mehr primär zwischen Zweck und Mittel, sondern zwischen System und Umwelt. Die Menschen mit all ihren Eigenschaften und Ambivalenzen bildet in diesem Theoriegebäude Umwelten des sozialen Systems »Wirtschaftsunternehmen«. Blickt man so auf Organisationen, dann erkennt man unweigerlich einen Widerspruch der klassischen Controlling-Konzepte: Die Ursachen für die Struktur und die Aufgaben der Controlling-Funktion werden in den Umwelten des sozialen Systems, also in der Psychodynamik der beteiligten Akteure verortet. So ist es zum Beispiel das Rationalitätsdefizit der Manager, das die Aufgabe des Controllings bestimmen soll. Diese »individualfokussierte Betrachtung« (Mayrhofer, Meyer, & Majer, 2004, S. 781) steht im Gegensatz zu einem systemtheoretischen Blick auf Organisationen: Die Merkmale der psychischen Prozesse der Kommunikationsteilnehmerinnen können nach einer systemtheoretischen Logik nie direkt die Kommunikationsstrukturen erklären, sondern sie begrenzen die Möglichkeiten. D. h. Umwelten definieren, welche Strukturen und Kommunikationen nicht möglich sind.

Controlling soll mit den Wirkprinzipien eines sozialen Systems arbeiten, nicht dagegen

Im Einklang mit diesen Erkenntnissen nehmen Controller in der Selbstorganisation an, dass sich komplexe soziale Systeme wie Unternehmen nicht in einer gradlinigen Ursache-Wirkungsbeziehung von außen »steuern« lassen. Sie lassen sich nur mehr oder weniger massiv durch andere psychische oder soziale Systeme in den Umwelten irritieren: »Ob das Setzen von Auslöseursachen im beobachteten System etwas bewirkt und was es bewirkt, wird im Wesentlichen durch den im Moment vorliegenden Zustand dieses Systems bestimmt […] (Luhmann, 2000, S. 401). Steuerung ist daher vorrangig Selbststeuerung, das System kann sich nur selbst ändern. Diese Einsicht ist fundamental für das Controlling in selbstorganisierten Unternehmen, das nicht gegen die komplexen Wirkprinzipien eines sozialen Systems arbeitet, sondern in, an und mit dem System. Das Controlling versteht sich also in der »Kunst der Intervention« (Willke, 2005, S. 73). Die Einsicht in die prinzipielle Unsteuerbarkeit der Organisation und ihrer autonomen Teilsysteme bildet dann die grundlegende Arbeitshypothese. Interessanterweise ergeben sich dadurch nicht weniger, sondern mehr und vor allem wirksamere Interventionsmöglichkeiten.

Beobachten, kluges Entscheiden, Kontextsteuerung

Muster, Strukturen, Prozesse und Konflikte rücken ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Nicht als Folge des Defizits einzelner Akteure, sondern als kommunikative Phänomene, die eben immer auch anders möglich sind. Das entlastet den einzelnen Menschen, die Führungskraft und das Controlling beträchtlich.

Diese Umstellung auf Systemrationalität – also die Unterscheidung von System und Umwelt – rückt für das Controlling den Umgang mit den komplexen Umwelten in den Vordergrund. Unternehmen und Umwelt bilden eine co-evolutionäre Überlebenseinheit: Wenn ein Unternehmen oder ein ganzes Wirtschaftssystem seine Umwelten zerstört, setzt es seine eigene Existenz aufs Spiel. Systemrationalität beinhaltet im Gegensatz zur herkömmlichen controllerischen Zweckrationalität also von vornherein immer bereits nachhaltiges Denken und Handeln.

Aufmerksamkeit liegt nun auf der Beobachtung der Umwelten und den Kopplungen mit diesen. Es geht darum, gerade so viel interne Eigenkomplexität aufzubauen, um in einer noch viel komplexeren Welt zu überleben. Eine Abstellung auf Systemrationalität führt dazu, dass der wache Blick nach außen in die Umwelten, das Reflektieren im Hier und Jetzt, das zweckrationale Planen und Budgetieren vollständig ersetzen kann. Die Zeit, die man mit dem Ausdenken und »Herunterbrechen« von Plänen, dem Ausarbeiten von Budgets, deren Kontrolle und Updates verbringt, wird in das feinsinnige und ständige Beobachten der Umwelten, das gemeinsame Konstruieren von hilfreichen Bildern und das Überführen in entsprechende Entscheidungen und Handlungen investiert. Iteratives Vorgehen, »Safe enough to try«-Entscheidungen werden zur Maxime und ersetzen die althergebrachte Frage, ob dieses oder jenes Vorhaben denn budgetiert ist.

Controlling wird dann zu einem Instrument der Kontextsteuerung (Willke, 1989, S. 86f). Im Wesentlichen geht es darum, die Fachkompetenz und das wirtschaftliche Verständnis der Abteilungen und Einzelpersonen zu stärken, sodass sie in der Lage sind, fundierte und kluge Entscheidungen zu treffen. »Klug« ist eine Entscheidung, die den Prozess des Entscheidens optimal gestaltet. Gleichzeitig werden gemeinsame Rahmenbedingungen definiert, die einerseits die Autonomie der Abteilungen begrenzen, um andererseits einen Mehrwert aus dem integrierten Zusammenspiel aller Unternehmensbereiche zu ermöglichen.

Fazit: Mehr Kreisverkehr und weniger Ampel

Die in Abbildung 2 dargestellte Metapher bringt das neuartige Steuerungsverständnis auf den Punkt (vgl. Bogsnes, 2023, S. 46 für eine ähnliche Metaphorik). Betrachten wir den Individualverkehr einer Stadt: Um einen reibungslosen und sicheren Verkehrsfluss zu gewährleisten, könnten Ampeln installiert werden. Eine alternative Herangehensweise wäre jedoch, Kreisverkehre zu nutzen. Die Kreisverkehrs-Lösung folgt einfachen Regeln, setzt auf die Autonomie, Echtzeit-Beobachtungsgabe, Intelligenz und Rücksichtnahme der aktuell beteiligten Verkehrsteilnehmer. Die Ampellösung wird hingegen zentral »gemanagt« und kontrolliert. Die Basis bilden hier historische Daten und im Voraus wird die Ampelschaltung von einem am eigentlichen Verkehrsgeschehen unbeteiligten Experten programmiert. Wenn man so will, setzt Controlling in der Selbstorganisation auf Kreisverkehre und nicht auf Ampeln: Das System reguliert sich selbst innerhalb der gesetzten Kontextbedingungen.

Das Steuerungsverständnis im klassischen Controlling

Literatur

Baecker, D. (1994). Postheroisches Management: Ein Vademecum. Berlin.

Bogsnes, B. (2023). Implementierung von Beyond Budgeting: Mehr Business-Agilität durch innovative Führungsprinzipien und Managementprozesse. Heidelberg.

Fink, F., & Moeller, M. (2018). Purpose Driven Organizations: Sinn – Selbstorganisation – Agilität. Stuttgart.

Gänßlen, S., Losbichler, H., Niedermayr, R., Rieder, L., Schäffer, U., & Weber, J. (2013). Die Kernelemente des Controllings – Das Verständnis von ICV und IGC. Controlling & Management Review (3/2013), S. 56-61.

Klein, S., Hughes, B., & Fleischmann, F. (2023). Der Loop Approach: Wie Du Deine Organisation von innen heraus transformierst, 2., vollständig überarbeitete Neuauflage. Frankfurt a. M.

Lerche, A. (2023). New Finance: Gestaltung zeitgemäßer Finanzprozesse in Purpose Driven Organizations. Stuttgart.

Luhmann, N. (2000). Organisation und Entscheidung. Opladen/Wiesbaden.

Mayrhofer, W., Meyer, M., & Majer, C. (2004). Controlling und Systemtheorie. Oder: Alles im Griff? Die Konstruktion organisationaler Wirklichkeit durch das Controlling. In E. Scherm (Hrsg.), & G. Pietsch (Hrsg.), Controlling: Theorien und Konzeptionen (S. 779-800). München.

Simon, F. B. (2009). Einführung in die systemische Wirtschaftstheorie. Heidelberg.

Storch, M. (2011). Das Geheimnis kluger Entscheidungen: Von Bauchgefühl und Körpersignalen, 12. Auflage 2019. München.

Weber, J., & Schäffer, U. (2020). Einführung in das Controlling, 16., überarbeitete und aktualisierte Auflage. Stuttgart.

Weick, K. E. (1995). Der Prozeß des Organisierens, 8. Auflage 2021. Frankfurt a. M.

Willke, H. (1989). Controlling als Contextsteuerung. Zum Problem dezentralen Entscheidens in vernetzten Organisationen. In R. Eschenbach (Hrsg), Supercontrolling – vernetzt denken, zielgerichtet entscheiden – (S. 63-96). Wien.

Willke, H. (2005). Systemtheorie II: Interventionstheorie – Grundzüge einer Theorie der Intervention in komplexe Systeme, 4., bearbeitete Auflage. Stuttgart.

New Finance: Gestaltung zeitgemäßer Finanzprozesse in Purpose Driven Organizations

Das systemisch-agile Rechnungswesen bietet Finanzprozesse, Methoden und Werkzeuge, die zu unserer neuen Arbeitswelt passen. Das Buch erläutert die fünf Leitprinzipien und sieben Kernmethoden des New-Finance-Ansatzes und zeigt Konfliktpotenziale auf.

Bestell-Nr.: E11478 / ISBN: 978-3-7910-5710-1
1. Auflage 2023, 232 Seiten, 49,99 EUR

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Schlagworte zum Thema:  Agilität, Change Management, Finance, Controlling