"Durch KI droht kognitive Entwöhnung"
Christoph Pause: Frau Rump, stellt Künstliche Intelligenz (KI) alles, was wir über das Lernen und darüber, wie wir die Welt begreifen, infrage oder ist sie nur eine Weiterentwicklung der Anforderungen, die es im Berufsleben bislang schon gab?
Jutta Rump: Ich denke, wir müssen zwischen der KI als Ersatz menschlicher Tätigkeiten und KI als Werkzeug unterscheiden. Im Kontext eines Substitutionseffekts, im Fall von klar definierten Prozessen, die komplett automatisiert werden und menschliche Beteiligung nicht mehr brauchen, sitzt die KI auf dem Fahrersitz – ohne Beifahrer, um im Bild zu bleiben. Wo das geschieht, wo digitale Anwendungen menschliche Arbeit komplett ersetzen, hat das eine große Radikalität. Denn dann löst sich ein ganzes Tätigkeitsspektrum auf und Menschen werden in ihrer Beruflichkeit getroffen. Wir können KI aber natürlich auch in anderer Form einsetzen, bei der Mensch und KI gemeinsam auf dem Fahrersitz sitzen. In diesem Fall ist KI das Werkzeug und greift den Menschen nicht in seiner Beruflichkeit an. Der Mensch hat schlicht einen digitalen Assistenten. In einer zweiten oder dritten Phase der Zusammenarbeit kann aus der KI eine Kollegin werden, die eigenständig Aufgaben innerhalb des Teams übernimmt. Vorstellbar ist auch, dass KI irgendwann in einzelnen Fragen die Führung übernimmt, wie andere Teammitglieder auch. Auch Mensch und KI bleiben in einem Teamzusammenhang.
Wann überholt uns KI?
Pause: Schon früher haben Maschinen menschliche Arbeit ersetzt.
Jutta Rump: Aber mit KI liegen die Dinge doch etwas anders. Ich nutze seit drei Jahren KI, fünf unterschiedliche Large Language Models (LLM). Die habe ich angelernt und trainiert, und seit einem Jahr sind wir soweit, dass die Systeme sehr gut arbeiten und mich von vielen Routinesachen entlasten. Dank KI gewinne ich Zeit. Aber in diesem Sommer habe ich bemerkt, dass die Modelle keine Grundschüler mehr sind, denen ich lesen und rechnen beibringe. Sie sind bereits in der Postdoc-Phase angekommen, zumindest zwei von den Systemen, die ich nutze. Diese schnelle Entwicklung stellt neue Fragen ans Lernen und an die Mensch-Maschinen-Interaktion und -Kooperation. Die Assistenten werden von Mal zu Mal besser. Ich habe mich gefragt, wann sie mich überholen. Und ob ich das zulassen werde. Wir Menschen müssen uns fragen, welche Rolle wir in Zukunft einnehmen und welche Verantwortung wir tragen.
Pause: Der Publizist Wolf Lotter schreibt in seinem neuen Buch über Künstliche und natürliche Intelligenz, KI bleibe ein Werkzeug für Menschen wie alle anderen Maschinen auch. Menschliche Intelligenz bleibe Automaten immer überlegen, "weil menschliche Intelligenz KI geschaffen" habe. Sehen Sie das auch so?
Jutta Rump: Ich denke, wir werden besser dank KI. Die LLM werden mit jeder Nutzung besser, und wir Menschen wollen mithalten und entwickeln uns auch. Das ist eine reziproke Entwicklung. Allerdings: Wenn ich sehe, in welcher Geschwindigkeit die KI-Systeme lernen und in welcher Geschwindigkeit ich lerne, dann lässt es mich die Stirn runzeln. Aber in dem Zusammenspiel mit KI habe ich mich im vergangenen Jahr unglaublich entwickelt. Ich würde den Satz, den Sie zitiert haben, nicht unterschreiben. Selbstverständlich ist der Mensch mehr als eine KI. Künstliche Intelligenz ist Mathematik, Physik und Logik. Wir sind mehr als das, wir haben emotionale Intelligenz, soziale Intelligenz und zumindest ab und zu haben wir Geistesblitze, Ideen, die einfach so entstehen. Das alles hat eine KI nicht. Aber KI kann dank ihrer Logik enorm viele Datensätze verarbeiten. Das können wir nicht, das können und müssen wir uns jedoch nutzbar machen. Die entscheidende Frage ist: Wann ist sie ein Tool und wann arbeitet sie für sich selbst? Es gibt komplett definierte Prozesse in einem geschlossenen System, die KI selbstständig ohne menschliche Intervention durchführt. Aber: Wir Menschen haben die Prozesse definiert und wir lassen es zu, dass die KI für sich allein arbeitet. Und es gibt sehr viele Aufgaben, bei denen Menschen mit einer KI-Assistenz zusammenarbeiten. Dort macht die KI nichts anderes, als dem Menschen Routineaufgaben abzunehmen. Die Aufgabenstellung, das Prompting und die Qualitätskontrolle liegen beim Menschen.
Die Gefahr der kognitiven Entwöhnung
Pause: In Ihrem Paper sprechen Sie von digitaler Anwendungskompetenz. Diese sollten alle Beschäftigten in Deutschland haben, denn niemand bleibe von KI unberührt. Das bedeutet für Unternehmen eine riesige Weiterbildungswelle.
Jutta Rump: Die meisten der 45 Millionen Beschäftigten in Deutschland haben schon längst Berührungspunkte mit Künstlicher Intelligenz, nämlich in ihrem Privatleben. Sie kaufen auf Online-Plattformen ein, nutzen Apps, buchen ihre Urlaube online, im Servicefall nutzen sie Chatbots. KI ist Teil ihres Alltags. Und wenn sie ins Unternehmen kommen, tun Unternehmen so, als sei das alles völlig neu und unbekannt. Und Führungskräfte glauben, jetzt und sofort alle Mitarbeitenden von Anfang bis Ende durchschulen zu müssen. KI ist in fast jeder Facette unseres Lebens angekommen, und ich denke, darauf können und sollten Unternehmen aufbauen. Indem sie mit praktischen Beispielen aus dem täglichen Leben der Menschen erklären, wie KI funktioniert, welche Logik zum Beispiel hinter einem Kunden-Chatbot steckt; und anhand dieser Beispiele zeigen, welche Chancen KI im Arbeitszusammenhang eröffnet. Aber eben auch die Risiken identifizieren, die damit verbunden sind.
Pause: Sie betonen die Bedeutung von Verbalisierungs- und Visualisierungskompetenz sowie der Strukturierungskompetenz.
Jutta Rump: Bis vor Kurzem war es so, dass wir Menschen unsere Gedanken ordnen mussten. Man saß vor einem weißen Blatt Papier oder einem leeren Word-Dokument und musste irgendwie anfangen. Die Ideen strukturieren, gliedern, den roten Faden finden. Es ging darum, das, was man im Kopf hatte, in die Welt zu bringen. Und zwar so, dass man selbst und andere damit etwas anfangen konnten. Das war – und bleibt – Denkarbeit. Heute können wir alles mehr oder weniger unstrukturiert in einen Prompt gießen. Und die KI übernimmt vermeintlich die Denkarbeit für uns. Sie liefert uns ein Ergebnis, mit dem wir dann weitermachen. Aber wir sparen uns die Denkarbeit, und meine Befürchtung ist, dass wir die Fähigkeit verlieren, Ideen in Worte oder in Bilder zu fassen und damit zu strukturieren. Es besteht die Gefahr der kognitiven Entwöhnung, wie ich das nenne. Und mit der kognitiven Entwöhnung rutschen wir vom Fahrersitz herunter, um das Bild vom Anfang aufzunehmen. Denn wir verlieren unsere Reflexionskompetenz, die Fähigkeit, Zusammenhänge zu erkennen und herzustellen, Dinge miteinander zu verbinden und Neues zu schaffen.
Den Blick auf ganzheitliche Bildung richten
Pause: Strukturieren, verbalisieren, Zusammenhänge erkennen, um Neues zu schaffen – das ist im Kern, was Wilhelm von Humboldt Bildung genannt…
Jutta Rump: Da bin ich ganz bei Ihnen. Das ist genau der Punkt. Die Auseinandersetzung mit KI führt uns zurück auf einen ganzheitlichen Bildungsbegriff. Diese ganzen Listen von sogenannten Digital Skills, die wir vermeintlich alle brauchen, helfen nicht, im Gegenteil. Neulich habe ich eine Liste gesehen, die 135 Kompetenzen aufführt. Ich bitte Sie! Mein Ziel mit dem Paper, über das wir reden, war genau das: Den Blick auf ganzheitliche, breite Bildung zu richten.
Pause: Was raten Sie Personalentwicklern in Unternehmen, die die Mitarbeitenden bei Digitalisierung und Künstlicher Intelligenz begleiten und weiterbilden möchten?
Jutta Rump: Erstens geht es darum, den Menschen zu erklären, was KI ist. Dass es sich dabei um Mathematik, Physik und Logik handelt und dass der Mensch so viel mehr ist als das. Um dann deutlich zu definieren, wo der Nutzen und der Mehrwert von Künstlicher Intelligenz für das Unternehmen und für jeden Mitarbeitenden liegen. Zweitens braucht jedes Unternehmen eine klare KI-Strategie. Die Menschen müssen wissen, wo KI zum Einsatz kommt und wo nicht. Genauso wichtig ist zu klären, wo KI in einem geschlossenen System allein arbeitet und wo sie Werkzeug oder vielleicht auch Kollegin ist. Drittens sollten Unternehmen nicht weniger, sondern eher mehr in die fachliche Weiterbildung der Menschen investieren. Denn ohne Fachkompetenz können wir KI nicht sinnvoll nutzen – weil wir die Antworten und Vorschläge der Systeme nicht bewerten und einordnen können. Viertens geht es darum, die Menschen zu unterstützen, ihre eigene Denkarbeit zu verbessern. Eben die Verbalisierungs- und Visualisierungskompetenzen und die Strukturierungskompetenz, über die wir gesprochen haben. Eine fundierte fachliche und allgemeine Bildung bleibt unabdingbar für Wirksamkeit, auch in Zusammenarbeit mit digitalen Systemen. Und schließlich rate ich dazu, so früh wie möglich anzufangen, die Menschen für die Herausforderungen und spezifischen Anforderungen zu sensibilisieren, vor die KI uns stellt. Am besten anhand von Beispielen aus unserem täglichen Leben, weil die Menschen das kennen. Je früher und lebensnäher, desto besser.
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