Entkräftung der Bekanntgabevermutung bei strukturellem Zustellungsdefizit
Hintergrund: Gesetzliche Regelung und Streitfrage
Nach § 47 Abs. 1 FGO beträgt die Frist für die Erhebung der Klage einen Monat; sie beginnt mit der Bekanntgabe der Entscheidung über den außergerichtlichen Rechtsbehelf. Die Entscheidung kann auch durch die Post übermittelt werden (§ 366 AO i.V.m. § 122 Abs. 2 AO). Der Verwaltungsakt gilt gem. § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO in der für das Streitjahr geltenden Fassung bei einer Übermittlung im Inland am dritten Tag nach der Aufgabe zur Post als bekannt gegeben, außer wenn er nicht oder zu einem späteren Zeitpunkt zugegangen ist.
Streitig ist, ob die Zugangsvermutung gemäß § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO entfällt, wenn berechtigte Zweifel an einer im Einklang mit der Drei-Tages-Fiktion stehenden Postversendung durch den Postdienstleister bestehen.
Sachverhalt: Zustellung einer Einspruchsentscheidung durch einen Postdienstleister des FA
- Der Kläger erzielt Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit. Im Rahmen der Einkommensteuererklärung für das Streitjahr 2020 machte er Aufwendungen für ein häusliches Arbeitszimmer sowie eine Minderung des Sachbezugs für die Privatnutzung eines ihm von seinem Arbeitgeber überlassenen Pkw geltend.
- Das FA erkannte im Einkommensteuerbescheid die geltend gemachte Minderung des Sachbezugs aus der Nutzung des Firmenwagens nicht an und beschränkte zudem die abzugsfähigen Aufwendungen für das häusliche Arbeitszimmer auf 1.250 EUR.
- Den hiergegen gerichteten Einspruch wies das FA mit Einspruchsentscheidung vom 28.1.2022 (einem Freitag) als unbegründet zurück. Die Einspruchsentscheidung war Prozessbevollmächtigten des Klägers als Bekanntgabeadressaten adressiert, wurde mit einfachem Brief versandt und dem Postdienstleister des FA, der X Firma, am 28.1.2022 übergeben. Diese stellte im Gewerbegebiet, in dem das Büro des Prozessbevollmächtigten belegen ist, regelmäßig von Dienstag bis Freitag zu. Die Post für die Samstagszustellung wurde ausnahmsweise standardmäßig am darauffolgenden Montag zugestellt.
- Im Büro des Prozessbevollmächtigten des Klägers erhielt die Einspruchsentscheidung den Eingangsstempel vom 3.2.2022, einem Donnerstag. Ein Posteingangsbuch führte der Prozessbevollmächtigte nicht. Den Umschlag, mit dem die Einspruchsentscheidung versandt worden war, hob er nicht auf.
- Mit seiner beim FG am 3.3.2022 erhobenen Klage verfolgte der Kläger seine bereits außergerichtlich geltend gemachten Begehren weiter. Nachdem das FG die Beteiligten auf Zweifel an der Einhaltung der Klagefrist hingewiesen hatte, teilte der Kläger mit, die Einspruchsentscheidung sei seinem Prozessbevollmächtigten ausweislich des Eingangsstempels erst am 3.2.2022 zugegangen, so dass die Klagefrist gewahrt sei. Die X Firma sei kein zuverlässiger Postdienstleister. Mit ihr versandte Schreiben seien mit erheblicher Zeitdauer unterwegs. Im Übrigen trage das FA die Beweislast.
- Das FG wies die Klage als unzulässig ab.
Entscheidung: Bekanntgabevermutung entkräftet
Nach Auffassung des BFH ist die Revision des Klägers begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der nicht entscheidungsreifen Sache an das FG (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FGO). Das FG hat die Klage zu Unrecht als unzulässig abgewiesen. Die tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz reichen allerdings nicht aus, um abschließend zu beurteilen, ob die Klage auch begründet ist.
Entkräftung der Bekanntgabevermutung nur nach substantiiertem Tatsachenvortrag
Bestreitet der Steuerpflichtige nicht den Zugang des Schriftstücks überhaupt, sondern behauptet er lediglich, es nicht innerhalb der Dreitagesfrist des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO erhalten zu haben, hat er sein Vorbringen nach der ständigen Rechtsprechung des BFH im Rahmen des Möglichen zu substantiieren, um Zweifel an der Dreitagesvermutung zu begründen (BFH, Urteil v. 14.6.2018, III R 27/17, BStBl II 2019, 16, Rz 9). Er muss Tatsachen vortragen, die den Schluss zulassen, dass ein anderer Geschehensablauf als der typische – Zugang binnen dreier Tage nach Aufgabe zur Post – ernstlich in Betracht zu ziehen ist.
Es genügt nicht schon einfaches Bestreiten, um die gesetzliche Vermutung über den Zeitpunkt des Zugangs des Schriftstücks zu entkräften. Es müssen vielmehr Zweifel berechtigt sein, sei es nach den Umständen des Falles, sei es nach dem schlüssig oder jedenfalls vernünftig begründeten Vorbringen des Steuerpflichtigen. Das Erfordernis eines substantiierten Tatsachenvortrags darf allerdings nicht dazu führen, dass die Regelung über die objektive Beweislast, die nach dem Gesetz die Behörde trifft, zu Lasten des Steuerpflichtigen umgekehrt wird (BFH, Urteile v. 11.7.2017, IX R 41/15, Rz 18, und v. 14.6.2018, III R 27/17, BStBl II 2019, 16, Rz 9).
Hat der Steuerpflichtige seinen Vortrag im Rahmen des ihm Möglichen substantiiert, hat das FG die Frage, ob "Zweifel" daran bestehen, dass ihm der Verwaltungsakt innerhalb der Dreitagesfrist zugegangen ist, nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung zu beantworten (§ 96 Abs. 1 Satz 1 FGO).
Unter welchen näheren Voraussetzungen ein Gericht von der Bekanntgabe innerhalb der Dreitagesfrist nach § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO überzeugt ist oder ob noch Zweifel am Zugang bestehen, lässt sich nicht allgemeingültig bestimmen, sondern ist Inhalt der jeweiligen tatrichterlichen Überzeugungsbildung. Diese ist grundsätzlich nach § 118 Abs. 2 FGO für die Rechtsmittelinstanz bindend. Sie kann im Revisionsverfahren nur darauf hin überprüft werden, ob das FG von einem unzureichend aufgeklärten Sachverhalt ausgegangen ist oder mit seiner Sachverhaltswürdigung gegen Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze verstoßen hat.
Erhebliche Zweifel an einem typischen Geschehensablauf
Die vom FG im Streitfall vorgenommene Würdigung zum Zugang der Einspruchsentscheidung innerhalb der Dreitagesfrist des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO hält einer revisionsrechtlichen Prüfung auch unter Berücksichtigung dieses eingeschränkten Prüfungsmaßstabs nicht stand.
Die Vorinstanz ist zwar zunächst in nicht zu beanstandender Weise davon ausgegangen, dass die Einspruchsentscheidung vorliegend am 28.1.2022 zur Post gegeben wurde. § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO greift nur dann ein, wenn feststeht, wann der mit einfachem Brief übersandte Verwaltungsakt tatsächlich zur Post aufgegeben worden ist. Das FG hat vorliegend den Sachverhalt bezüglich der Aufgabe der Einspruchsentscheidung zur Post im Rahmen des Möglichen aufgeklärt und ist dabei zu der tatrichterlichen Überzeugung gelangt, dass die vom zuständigen Bearbeiter erstellte Einspruchsentscheidung dem Postdienstleister X Firma am 28.1.2022 (Freitag) von der amtsinternen Poststelle übergeben wurde.
Bekanntgabevermutung im Urteilsfall entkräftet
Vorliegend ergeben sich aus den besonderen Umständen des Falles aber erhebliche Zweifel an dem typischen Geschehensablauf, dass die Einspruchsentscheidung den Empfänger, den Prozessbevollmächtigten des Klägers, innerhalb von drei Tagen nach Aufgabe zur Post erreicht hat. Denn der Kläger hat am Zugang der Einspruchsentscheidung innerhalb der Dreitagesfrist des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO berechtigte Zweifel dargelegt.
Im Gewerbegebiet, in dem das Büro des Prozessbevollmächtigten belegen ist, wurde durch die X Firma Post regelmäßig nur von Dienstag bis Freitag zugestellt. Allein die Post für die "Samstagszustellung" wurde ausnahmsweise standardmäßig am darauffolgenden Montag zugestellt. Insoweit war im Streitjahr nicht sichergestellt, dass ein von der X Firma zur Versendung an einem Freitag beim FA abgeholtes Schreiben einem Empfänger mit der Adresse [Straße] in [Ort] zuverlässig innerhalb von drei Tagen seit Abholung der Post zuging.
Die X Firma konnte nach dem festgestellten Geschehensablauf nicht sicherstellen, dass in der im Gewerbegebiet belegenen Adresse [Straße] in [Ort] die am Freitag vom Kunden aufgegebene oder abgeholte Post mit einer 95%igen Wahrscheinlichkeit innerhalb von drei Tagen ausgeliefert wurde. Es lässt sich hier nicht ausschließen, dass die am Freitag vom FA zur Post gegebene Einspruchsentscheidung erst an einem späteren Tag als am darauffolgenden Montag dem Prozessbevollmächtigten des Klägers zuging, da Samstag und Sonntag im Gewerbegebiet zustellfreie Tage waren und es sich auch bei dem Montag – dem letzten Tag der Frist nicht um einen regulären Zustelltag handelte. Vielmehr wurde am Montag, hier dem letzten Tag der Dreitagesfrist, lediglich die "Samstagspost" und damit die Post des ersten auf den Einlieferungstag (Freitag) folgenden Werktags, für den – selbst bei Einhaltung der Vorgaben des § 2 Nr. 3 der Post-Universaldienstleistungsverordnung in der bis zum 18.7.2024 geltenden Fassung – die Auslieferungswahrscheinlichkeit durch die X Firma lediglich bei 80 % lag, nachgeliefert. Angesichts eines solchen "strukturellen Zustellungsdefizits" ist die Bekanntgabevermutung des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO ohne Weiteres entkräftet.
Bei dieser Sachlage gereicht es dem Kläger auch nicht zum Nachteil, dass sein Prozessbevollmächtigter im Streitjahr weder ein Posteingangsbuch geführt noch den Briefumschlag der Einspruchsentscheidung aufbewahrt hat. Denn der Briefumschlag konnte allenfalls ein Beweismittel für die Aufgabe der Einspruchsentscheidung zur Post liefern. Greift nach alledem die Bekanntgabevermutung des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO nicht durch, ist die Klage im Streitfall am 3.3.2022 fristgerecht erhoben worden. Das FG hat – nach seiner Rechtsauffassung zu Recht – keine Feststellungen zur Begründetheit der Klage getroffen. Diese wird das FG im zweiten Rechtsgang nachzuholen haben.
Hinweis: Zugangsvermutung ab 1.1.2025 auf vier Tage verlängert
Die Zugangsvermutung u.a. des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO wurde ab 1.1.2025 auf vier Tage verlängert (Postrechtsmodernisierungsgesetz – PostModG v. 15.7.2024, BGBl 2024 I Nr. 236 v. 18.7.2024).
BFH, Urteil v. 29.7.2025, VI R 6/23; veröffentlicht am 13.11.2025
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