Zugangsvermutung wenn Post nicht an allen Werktagen zugestellt

Hintergrund: Gesetzliche Regelung
Ein schriftlicher Verwaltungsakt, der durch die Post übermittelt wird, gilt als bekannt gegeben bei einer Übermittlung im Inland am dritten Tage nach der Aufgabe zur Post, außer wenn er nicht oder zu einem späteren Zeitpunkt zugegangen ist; im Zweifel hat die Behörde den Zugang des Verwaltungsakts und den Zeitpunkt des Zugangs nachzuweisen (§ 122 Abs. 2 Nr. 1 AO i. d. F. für das Streitjahr 2017).
Rechtsfrage
Entfällt die Zugangsvermutung nach § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO, wenn innerhalb der dort genannten Dreitages-Frist an einem Werktag regelmäßig keine Postzustellung stattfindet und zwar unabhängig davon, ob der Empfänger berechtigte Zweifel gegen den nach der Zugangsvermutung berechneten Bekanntgabezeitpunkt erhoben hat?
Sachverhalt: Beteiligte streiten um Wahrung der Einspruchsfrist
Der entscheidungsrelevante Sachverhalt verhielt sich folgendermaßen:
- Das Finanzamt (FA) erließ am 15.6.2018, einem Freitag, den Einkommensteuerbescheid für das Jahr 2017.
- Der an die Klägerin als Inhalts- und Bekanntgabeadressatin gerichtete Bescheid wurde am selben Tag der X AG, einem Postdienstleistungsunternehmen, übergeben. Dieses stellt im Wohnviertel der Klägerin Post nur an maximal 5 Arbeitstagen der Woche zu.
- Die Klägerin war vom 2.5.2018 bis Montag, den 18.6.2018, beruflich in B tätig. Während dieser Zeit hatte sie eine Freundin und ihre Mutter mit der Leerung des Briefkastens betraut. Am Morgen des 19.6.2018 kehrte die Klägerin nach A in ihre Wohnung zurück und fand in ihrem Briefkasten den Einkommensteuerbescheid 2017 vor. Noch am selben Tag übersandte sie diesen – gegen 11.40 Uhr – per Telefax an ihre Prozessbevollmächtigte.
- Die Prozessbevollmächtigte legte am 19.7.2018 namens der Klägerin gegen den Einkommensteuerbescheid vom 15.6.2018 Einspruch ein. Das FA verwarf den Einspruch als unzulässig. Da der angefochtene Bescheid am 15.6.2018 im Wege des Zentralversands zur Post gegeben worden sei, gelte er nach§ 122 Abs. 2 Nr. 1 AO als am 18.6.2018 (Montag) bekanntgegeben. Somit habe die Klägerin die Einspruchsfrist nicht gewahrt.
FG gab Klage statt
Das FG gab der hiergegen erhobenen Klage statt. Die Zugangsvermutung finde im Streitfall keine Anwendung, weil an die Wohnadresse der Klägerin innerhalb der Dreitagesfrist regelmäßig nicht an allen Werktagen Post durch das vom FA beauftragte Postdienstleistungsunternehmen ausgeliefert worden sei. Da das FA einen früheren Zugang nicht habe nachweisen können, sei der Einkommensteuerbescheid der Klägerin erst am 19.6.2018 bekanntgegeben worden. Die Einspruchsfrist sei deshalb erst am 19.7.2018 abgelaufen, der am selben Tag eingelegte Einspruch mithin fristgerecht.
Entscheidung: Zugangsvermutung gilt auch im Streitfall
Die Revision führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Abweisung der Klage. Das FG ist zu Unrecht davon ausgegangen, dass die Klägerin die Einspruchsfrist gewahrt hat und der angefochtene Einkommensteuerbescheid daher geändert werden konnte.
Erforderlich ist ein substantiierter Vortrag zu Erschütterung der Zugangsvermutung
Bestreitet der Steuerpflichtige nicht den Zugang des Schriftstücks überhaupt, sondern behauptet er lediglich, es nicht innerhalb der Dreitagesfrist des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO erhalten zu haben, hat er sein Vorbringen nach der ständigen Rechtsprechung des BFH im Rahmen des Möglichen zu substantiieren, um Zweifel an der Dreitagesvermutung zu begründen.
Er muss Tatsachen vortragen, die den Schluss zulassen, dass ein anderer Geschehensablauf als der typische – Zugang binnen dreier Tage nach Aufgabe zur Post – ernstlich in Betracht zu ziehen ist. Es genügt nicht schon einfaches Bestreiten, um die gesetzliche Vermutung über den Zeitpunkt des Zugangs des Schriftstücks zu entkräften. Es müssen vielmehr Zweifel berechtigt sein, sei es nach den Umständen des Falles, sei es nach dem schlüssig oder jedenfalls vernünftig begründeten Vorbringen des Steuerpflichtigen.
Das Erfordernis eines substantiierten Tatsachenvortrags darf allerdings nicht dazu führen, dass die Regelung über die objektive Beweislast, die nach dem Gesetz die Behörde trifft, zu Lasten des Steuerpflichtigen umgekehrt wird.
Zugangsvermutung im Urteilsfall nicht erschüttert
Das Vorbringen der Klägerin, sie habe den Briefkasten am Dienstag, den 19.6.2018, unmittelbar nach ihrer Rückkehr nach A geleert und darin den Einkommensteuerbescheid vom 15.6.2018 vorgefunden, ist nicht geeignet, Zweifel an dessen Zugang innerhalb der Dreitagesfrist zu begründen. Denn nach den bindenden Feststellungen des FG wurde im Wohnviertel der Klägerin zwar an Samstagen keine, an Montagen jedoch durchaus Post von der X AG zugestellt. Aufgrund dessen erscheint vorliegend eine Zustellung des streitigen Steuerbescheids am letzten Tag der Dreitagesfrist, Montag, dem 18.6.2018, zumindest möglich. Diese Möglichkeit konnte die Klägerin aus eigener Anschauung auch nicht ausschließen, da sie wegen ihrer Ortsabwesenheit nicht wissen konnte, ob der Einkommensteuerbescheid, den sie am Vormittag des 19.6.2018 in ihrem Briefkasten vorfand, (erst) am selben Tag oder (bereits) am Vortag dort eingelegt worden war.
Anderes ergibt sich auch nicht aus dem Umstand, dass die Klägerin ihre Mutter und eine Freundin während ihrer Abwesenheit mit der Leerung ihres Briefkastens betraut hatte. Auch hieraus kann nicht geschlossen werden, dass der streitgegenständliche Einkommensteuerbescheid erst am 19.6.2018 und nicht bereits am 18.6.2018 in ihren Briefkasten eingelegt wurde. Hierfür hätte es vielmehr des Vortrags bedurft, die mit der Leerung betrauten Personen hätten den Briefkasten der Klägerin nach der am 18.6.2018 erfolgten Zustellrunde geleert, ohne darin den Einkommensteuerbescheid vorzufinden. Ein solches, Zweifel begründendes Geschehen hat die Klägerin allerdings weder behauptet, noch wurde es vom FG festgestellt. Vielmehr ist (auch) die Vorinstanz davon ausgegangen, dass die Klägerin den Zugang des Einkommensteuerbescheids am 18.6.2018 nicht substantiiert bestritten hat. Vor diesem Hintergrund reichen allein die dargelegten und vom FG festgestellten Zweifel an der Zuverlässigkeit der X AG im Allgemeinen nicht aus, um die Zugangsvermutung des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO zu erschüttern.
Zustellung nicht an allen Werktagen steht Zugangsvermutung nicht entgegen
Der Zugangsvermutung steht nicht entgegen, dass das Postdienstleistungsunternehmen im Streitfall an dem innerhalb der Dreitagesfrist liegenden Samstag (16.6.2018) keine Zustellungen in dem Wohnviertel der Klägerin vorgenommen hat. Ebenso wenig steht ihr entgegen, dass die X AG Postgut regelmäßig nur an fünf von sechs Werktagen ausgeliefert hat.
An dieser Beurteilung ändert sich auch dann nichts, wenn – wie vorliegend – planmäßig an zwei aufeinanderfolgenden Tagen keine Postzustellung erfolgt, weil der zustellfreie Tag an einen Sonntag grenzt. Die Zustellung innerhalb der Dreitagesfrist wird hierdurch zwar etwas weniger wahrscheinlich, ist aber gleichwohl möglich. Die zeitlich beschränkte Zustellung berührt deshalb nicht die generelle Anwendbarkeit der Zugangsvermutung, sondern ist nach Maßgabe der v. g. Grundsätze allenfalls geeignet, diese, wenn der spätere Zugang des Verwaltungsakts substantiiert vorgetragen wird, zu erschüttern.
Hinweis: Ab dem Jahr 2025 gilt Viertages-Frist
§ 122 Abs. 2 Nr. 1 AO wurde durch Art. 20 des Gesetzes zur Modernisierung des Postrechts (Postrechtsmodernisierungsgesetz – PostModG) v. 15.7.2024, BGBl 2024 Nr. 236, dahingehend geändert, dass die Fiktion für die Bekanntgabe für Verwaltungsakte, die nach dem 31.12.2024 zur Post gegeben werden, nunmehr vier Tage beträgt. Gleichwohl sind die Grundsätze der Rezensionsentscheidung auch für die nach der Neuregelung bekanntgegebene Steuerbescheide sinngemäß anwendbar.
BFH, Urteil v. 20.2.2025, VI R 18/22; veröffentlicht am 2.5.2025
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