Verzinsung von Kapitalertragsteuerbeträgen

Erstattungsbeträge zur Kapitalertragsteuer gemäß § 50d Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 43b EStG und Art. 5 der Mutter-Tochter-Richtlinie (MTR) sind nach dem Unionsrecht zu verzinsen, wenn dem Anteilseigner vom BZSt die Erstattung der Kapitalertragsteuer unter Bezugnahme auf § 50d Abs. 3 EStG 2007 ohne Anhaltspunkte, die auf eine missbräuchliche Gestaltung im Einzelfall hindeuten, vorenthalten wird.

Hintergrund: EuGH-Entscheidung in den Rechtssachen Deister Holding und Juhlen Holding

Vielen ausländischen Anteilseignern wurde in der Vergangenheit vom Bundeszentralamt für Steuern (BZSt) die Erstattung von einbehaltener Kapitalertragsteuer auf Gewinnausschüttungen verweigert, was jedoch nach den Entscheidungen des EuGH in den Rechtssachen Deister Holding und Juhlen Holding v. 20.1.2017, C 504/16 und C 613/16 gegen das Unionsrecht verstieß. Sie haben auf der Grundlage des Unionsrechts einen Verzinsungsanspruch, wenn ihnen die Erstattung der Steuerbeträge unter Verstoß gegen das Unionsrecht vorenthalten wird oder die Kapitalertragsteuer von vornherein unter Verstoß gegen das Unionsrecht einbehalten wird. Die Entscheidung des BFH dürfte eine beträchtliche finanzielle Tragweite für den Fiskus haben.

Sachverhalt: Unionsrechtswidriger Verweigerung einer Kapitalertragsteuererstattung

Der entscheidungsrelevante Sachverhalt verhielt sich folgendermaßen:

Die Klägerin ist eine in Österreich ansässige Kapitalgesellschaft, die an der B-AG, einer inländischen Aktiengesellschaft, beteiligt war.

  • Am 16./17.4.2009 hatte die Klägerin beim BZSt einen Antrag auf Teilfreistellung von der deutschen Abzugsteuer (Freistellungsbescheinigung) unter Berufung auf die Steuerfreiheit der Bezüge von der B-AG gemäß § 43b EStG des für den Streitzeitraum jeweils geltenden Gesetzes gestellt. Die Erteilung der Freistellungsbescheinigung wurde vom BZSt am 12.11.2009 abgelehnt. Nach Einspruchseinlegung durch die Klägerin erteilte das BZSt die Freistellungsbescheinigung unter dem Vorbehalt des Widerrufs und unter Auflagen. Am 2.3.2011 hob das BZSt die Freistellungsbescheinigung gemäß § 131 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO wieder auf. Hiergegen erhob die Klägerin erneut Einspruch.
  • Bei den einzelnen Ausschüttungen der B-AG an die Klägerin behielt die B-AG Kapitalertragsteuer sowie Solidaritätszuschlag ein. Die Klägerin stellte beim BZSt entsprechende Erstattungsanträge, die das BZSt jeweils unter Hinweis auf § 50d Abs. 3 EStG 2007 zunächst ablehnte. Die anschließend erhobenen Einsprüche ruhten im Hinblick auf beim EuGH anhängige Musterverfahren (C-504/16 und C-613/16 sowie C-440/17).

Nach Ergehen der EuGH-Entscheidungen erstattete das BZSt der Klägerin die einbehaltenen und abgeführten Kapitalertragsteuerbeträge. Im Anschluss beantragte die Klägerin die Festsetzung von Zinsen für den Zeitraum vom jeweiligen Tag des Steuereinbehalts bis zur Auszahlung des jeweiligen Erstattungsbetrags. Das BZSt lehnte die Anträge mit Bescheid vom 22.10.2018 ab.

Nach Einlegung einer Untätigkeitsklage, mit der die Klägerin unter Aufhebung des Ablehnungsbescheids die Verpflichtung des BZSt zur Festsetzung von Zinsen für den Zeitraum vom jeweiligen Tag des Steuereinbehalts bis zur Auszahlung des jeweiligen Erstattungsbetrags begehrte, hat das FG der Klage teilweise stattgegeben und verpflichtete das BZSt, Zinsen festzusetzen.

Mit ihrer Revision rügte die Klägerin die Verletzung materiellen Bundesrechts, soweit das FG der Klage nicht stattgegeben hat. Sämtliche Erstattungsbeträge seien ab dem Tag des Einbehalts zu verzinsen. Das BZSt beantragte, die Revision der Klägerin als unbegründet zurückzuweisen.

Entscheidung: Erstattungsbeträge sind zu verzinsen

Die Erstattungsbeträge zur Kapitalertragsteuer und zum Solidaritätszuschlag sind nach dem aus dem Unionsrecht abzuleitenden Verzinsungsanspruch zu verzinsen.

Nach der Rechtsprechung des EuGH hat der Einzelne, wenn ein Mitgliedstaat unter Verstoß gegen die Vorschriften des Unionsrechts eine Steuer erhoben hat, einen Anspruch auf Erstattung nicht nur der zu Unrecht erhobenen Steuer, sondern auch der Beträge, die im unmittelbaren Zusammenhang mit dieser Steuer an diesen Staat gezahlt oder von diesem einbehalten worden sind. Darunter fallen auch die Einbußen aufgrund der mangelnden Verfügbarkeit von Geldbeträgen infolge der vorzeitigen Fälligkeit der Steuer. Daraus folgt der Grundsatz, dass die Mitgliedstaaten aus dem Unionsrecht verpflichtet sind, die unter Verstoß gegen das Unionsrecht erhobenen Steuerbeträge zuzüglich Zinsen zu erstatten.

Verzinsungsanspruch auch im Einspruchsverfahren

Die Voraussetzungen für den unionsrechtlichen Verzinsungsanspruch können nicht nur erfüllt sein, wenn der Unionsrechtsverstoß im Wege einer Klage verfolgt und die Erstattung der unionsrechtswidrig erhobenen Steuern gerichtlich durchgesetzt wird. Auch die Abwehr des Unionsrechtsverstoßes im Rahmen eines (zwischenzeitlich ruhenden) Einspruchsverfahrens genügt. Die Klägerin musste sich nicht auf die Rechtsverfolgung der Erstattungsbegehren durch die Festsetzung von Freistellungsbescheiden im Wege einer Untätigkeitsverpflichtungsklage verweisen lassen, um die Voraussetzungen des unionsrechtlichen Verzinsungsanspruchs zu erfüllen. Entscheidend und ausreichend für eine Verzinsung der Erstattungsbeträge ist, dass deren Vorenthaltung auf einer unionsrechtswidrigen Auslegung oder Anwendung der maßgeblichen nationalen Regelungen beruhte.

Unionsrechtswidrige Erhebung der Kapitalertragsteuer

Wird eine Steuer von einer nationalen Behörde "unter Verstoß gegen das Unionsrecht" rechtsgrundlos erhoben, begründet und rechtfertigt dies die Verzinsung der zu erstattenden Steuerbeträge. Von einer unionsrechtswidrige Erhebung der Kapitalertragsteuer ist auszugehen, wenn im Erstattungsverfahren ein mit dem Unionsrecht nicht mehr vereinbarer Vollzug der Entlastungsregelungen in § 50d Abs. 1 Satz 2 (heute § 50c Abs. 3 Satz 1 EStG) i.V.m. § 43b EStG und Art. 5 MTR stattfindet. Ein unionsrechtswidriger Vollzug der Entlastungsregelungen im Erstattungsverfahren kann auf einer fehlerhaften Auslegung oder Anwendung des Unionsrechts beruhen, wobei der Verstoß jede Vorschrift des Unionsrechts – sei es eine Bestimmung des Primär- oder Sekundärrechts oder einen allgemeinen Rechtsgrundsatz des Unionsrechts – zum Gegenstand haben kann.

Das BZSt hat das Unionsrecht fehlerhaft ausgelegt und angewendet, indem es hinsichtlich der Erstattungsanträge der Klägerin die Erstattung unter Berufung auf die Regelung in § 50d Abs. 3 EStG 2007 vorenthalten hat. Es hat sich zur Ablehnung der Erstattung jeweils auf § 50d Abs. 3 EStG 2007 und die der Regelung innewohnende Missbrauchsregelung gestützt, ohne selbst Umstände zu benennen, aus denen im Sinne eines Anfangsbeweises auf fehlende wirtschaftliche Gründe für die Einschaltung der Klägerin in die Beteiligungsstruktur oder auf eine Steuerhinterziehung geschlossen werden könnte. In der Anwendung des § 50d Abs. 3 EStG 2007 als allgemeiner Missbrauchsregelung und der verfahrensrechtlichen Umkehrung der Darlegungs- und Feststellungslast für eine missbräuchliche Gestaltung liegt eine fehlerhafte Auslegung und Anwendung der Vorgaben aus Art. 1 Abs. 2 MTR und der Niederlassungsfreiheit (Art. 49 AEUV) durch das BZSt.

Zinslauf ohne vorheriges Freistellungsbescheinigungsverfahren

Der Zinslauf beginnt in Fällen, in denen ohne ein vorheriges Freistellungsbescheinigungsverfahren die Erstattung der Kapitalertragsteuer beantragt und im Erstattungsverfahren in unionsrechtswidriger Weise vorenthalten wurde, drei Monate nach der Eingang eines formal ordnungsgemäßen Erstattungsantrags beim BZSt (typisierender Bearbeitungszeitraum). Er endet mit dem Tag der Auszahlung des Erstattungsbetrags.

Zinslauf bei unionsrechtswidrigem Widerruf einer Freistellungsbescheinigung

In Fällen, in denen eine zunächst erteilte Freistellungsbescheinigung unter unionsrechtswidriger Bezugnahme auf § 50d Abs. 3 EStG 2007 vom BZSt widerrufen wurde, beginnt der Zinslauf mit dem Tag des Einbehalts der Kapitalertragsteuer durch die B-AG. Er endet mit dem Tag der Auszahlung des Erstattungsbetrags.

Taggenaue Berechnung der Zinsen

Abschließend weist der BFH darauf hin, dass die Zinsen für die jeweiligen Verzinsungszeiträume unter Berücksichtigung der Regelung in § 187 Abs. 1 BGB taggenau und für Verzinsungszeiträume vor dem 01.01.2019 mit 6% jährlich (§ 238 AO) zu berechnen sind.

BFH, Urteil v. 25.2.2025, VIII R 32/21; veröffentlicht am 15.5.2025

Alle am 15.5.2025 veröffentlichten Entscheidungen des BFH mit Kurzkommentierungen