Unkenntnis der Finanzbehörde bei einer Steuerhinterziehung durch Unterlassen
Hintergrund: Verlängerte Festsetzungsfrist bei Steuerhinterziehung
Nach § 169 Abs. 1 Satz 1 AO ist eine Steuerfestsetzung nicht mehr zulässig, wenn die Festsetzungsfrist abgelaufen ist. Die Festsetzungsfrist beträgt für die Einkommensteuer gemäß § 169 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AO grundsätzlich vier Jahre. Sie beträgt nach § 169 Abs. 2 Satz 2 AO zehn Jahre, soweit eine Steuer hinterzogen, und fünf Jahre, soweit eine Steuer leichtfertig verkürzt worden ist.
Gemäß § 170 Abs. 1 AO beginnt die Festsetzungsfrist mit Ablauf des Kalenderjahres, in dem die Steuer entstanden ist. Ist eine Steuererklärung einzureichen, beginnt die Festsetzungsfrist abweichend mit Ablauf des Kalenderjahres, in dem die Steuererklärung eingereicht wird, spätestens jedoch mit Ablauf des dritten Kalenderjahres, das auf das Kalenderjahr folgt, in dem die Steuer entstanden ist (§ 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO).
Sachverhalt: Nichtabgabe einer Einkommensteuererklärung bei Pflichtveranlagung
- Die Kläger sind Eheleute und wurden für die Streitjahre 2009 und 2010 zur Einkommensteuer zusammenveranlagt.
- Bis einschließlich des Veranlagungszeitraums 2008 erzielte lediglich der Kläger Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit, wobei sein Lohnsteuerabzug nach der Steuerklasse III erfolgte. Die Kläger reichten bis zum Veranlagungszeitraum 2008 regelmäßig Einkommensteuererklärungen ein. Das FA speicherte den Steuerfall als Antragsveranlagung.
- In den Streitjahren erzielte auch die Klägerin Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit. Der Lohnsteuerabzug des Klägers erfolgte weiterhin nach der Steuerklasse III, derjenige der Klägerin nach der Steuerklasse V. Ihr Steuerfall blieb beim FA als Antragsveranlagung gespeichert.
- Die elektronischen Lohnsteuerbescheinigungen wurden dem FA von den jeweiligen Arbeitgebern übermittelt und im Datenverarbeitungsprogramm unter der Steuernummer der Kläger in einer Übersicht über elektronische Bescheinigungen abrufbar erfasst. Außerdem händigten die Arbeitgeber den Klägern Ausdrucke der jeweiligen elektronischen Lohnsteuerbescheinigungen aus, auf denen vermerkt war, dass die Daten maschinell an die Finanzverwaltung übertragen worden seien.
- Steuererklärungen reichten die Kläger für die Streitjahre nicht mehr ein. Aufforderungen zur Abgabe der Einkommensteuererklärungen erließ das FA nicht.
- Anfang des Jahres 2018 fiel bei Bearbeitung einer von der Oberfinanzdirektion (OFD) übersandten eDaten-Prüfliste auf, dass mit Aufnahme der nichtselbständigen Arbeit durch die Klägerin im Jahr 2009 ein Wechsel von der Antrags- zur Pflichtveranlagung erfolgt war und die Kläger daher entsprechend verpflichtet gewesen wären, Einkommensteuererklärungen für die Streitjahre abzugeben.
- Am 8.6.2018 erließ das FA daraufhin für die Streitjahre 2009 und 2010 Schätzungsbescheide und setzte die Einkommensteuer sowie Verspätungszuschläge fest.
- Im Einspruchsverfahren machten die Kläger geltend, dass Festsetzungsverjährung eingetreten sei. Das Finanzamt ging demgegenüber von einer verlängerten Festsetzungsfrist wegen vollendeter Steuerhinterziehung aus. Der Einspruch blieb erfolglos.
Der hiergegen erhobenen Klage gab das FG statt. Es war im Wesentlichen der Ansicht, dass der objektive Tatbestand einer Steuerhinterziehung durch Unterlassen (§ 370 Abs. 1 Nr. 2 AO) nicht erfüllt sei, weil dem zuständigen Bearbeiter die für eine Veranlagung der Kläger erforderlichen Informationen abrufbar zur Verfügung gestanden hätten. Das FA habe deshalb zum maßgeblichen Veranlagungszeitpunkt von den für die Steuerfestsetzung wesentlichen tatsächlichen Umständen Kenntnis gehabt.
Entscheidung: Noch keine die Steuerhinterziehung ausschließende Kenntnis des zuständigen Amtsträgers
Die Kläger waren gem. § 149 Abs. 1 Satz 1 AO und § 25 Abs. 3 EStG i.V.m. § 56 Satz 1 Nr. 1 Buchst. b der EStDV und § 46 Abs. 2 Nr. 3a EStG für die Streitjahre zur Abgabe von Steuererklärungen verpflichtet. Die Festsetzungsfrist begann daher für das Streitjahr 2009 mit Ablauf des 31.12.2012 und für das Streitjahr 2010 mit Ablauf des 31.12.2013. Sie lief mithin grundsätzlich am 31.12.2016 beziehungsweise am 31.12.2017 ab.
Das FG ist zu Unrecht davon ausgegangen, dass vorliegend eine Verlängerung der regulären Festsetzungsfrist nach § 169 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. §§ 370, 378 Abs. 1 AO deshalb nicht in Betracht komme, weil das FA zum maßgeblichen Veranlagungszeitpunkt von den für die Steuerfestsetzung wesentlichen tatsächlichen Umständen Kenntnis gehabt habe und der objektive Tatbestand einer Steuerhinterziehung durch Unterlassen beziehungsweise einer leichtfertigen Steuerverkürzung daher nicht erfüllt sei.
Zur Kenntnis der Finanzbehörden von den wesentlichen tatsächlichen Umständen
Zur Beantwortung der Frage, ob die Finanzbehörde Kenntnis von den für die Steuerfestsetzung wesentlichen tatsächlichen Umständen hat, ist auf diejenigen Personen abzustellen, die innerhalb der zuständigen Finanzbehörde organisationsmäßig für die Bearbeitung des Steuerfalls berufen sind beziehungsweise die den (zu ändernden) Steuerbescheid erlassen haben. Die Finanzbehörde muss sich danach den gesamten Inhalt der bei ihr geführten Papierakten, aber ebenso auch einer elektronisch geführten Akte als bekannt zurechnen lassen. Bekannt sind neben dem Inhalt dieser geführten Akten auch sämtliche Informationen, die dem Sachbearbeiter von anderen (Dienst-)Stellen über ein elektronisches Informationssystem zur Verfügung gestellt werden, ohne dass es insoweit auf die individuelle Kenntnis des jeweiligen Bearbeiters ankommt.
Nicht bekannt sind dagegen elektronische Daten, die nicht automatisch zur Papierakte/elektronischen Akte gelangen und lediglich auf abrufbaren Datenspeichern der Finanzbehörde liegen; dies gilt auch dann, wenn die Daten – wie im Streitfall – mit der Steuernummer verknüpft sind. Dies ergibt sich letztlich aus dem verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG i.V.m. § 1 StGB.
Entscheidungserhebliche Daten im Urteilsfall nicht automatisch zur Akte gelangt
Bei Heranziehung dieser Grundsätze ist das FG zu Unrecht von einer den Tatbestand des § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO ausschließenden Kenntnis des sachlich zuständigen Bearbeiters im maßgeblichen Veranlagungszeitpunkt ausgegangen. Der Steuerfall der Kläger blieb auch in den Streitjahren als Antragsveranlagung gespeichert. Die mit den elektronischen Lohnsteuerbescheinigungen an das FA übermittelten Daten waren zwar mit der gemeinsamen Steuernummer der Kläger verknüpft und dieser tatsächlich zugeordnet. Sie waren aber nur aus einem Datenspeicher in einer Übersicht über elektronische Bescheinigungen abrufbar, ohne dass sie bereits automatisch zu einer Papierakte oder elektronischen Akte gelangt waren.
Angesichts der Speicherung als Antragsveranlagung bestand für den Bearbeiter keine Veranlassung zur Einsicht in den Datenspeicher und zum Datenabruf. Kenntnis von dem steuerrelevanten Tatbestand (den Einkünften auch der Klägerin und der damit aufgrund der gewählten Steuerklassen III und V) hat der sachlich zuständige Bearbeiter vielmehr erstmals Anfang des Jahres 2018 durch die von der OFD übersandte eDaten-Prüfliste erlangt.
Noch keine Feststellungen zum subjektiven Tatbestand des § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO
Die tatbestandsmäßige und rechtswidrige Steuerhinterziehung kann nur dann nach § 370 AO geahndet werden, wenn die Tat schuldhaft begangen wurde. Das FG hat im Urteilsfall – von seinem Standpunkt aus zu Recht – noch keine hinreichenden Feststellungen zum subjektiven Tatbestand des § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO beziehungsweise für das Streitjahr 2010 gegebenenfalls einer leichtfertigen Steuerverkürzung (§ 378 AO) getroffen. Dies hat das FG im zweiten Rechtsgang nachzuholen.
Praxishinweis: Zur Steuerhinterziehung durch Unterlassen
Nach § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO begeht eine Steuerhinterziehung durch Unterlassen, wer vorsätzlich die Finanzbehörden pflichtwidrig über steuerlich erhebliche Tatsachen in Unkenntnis lässt und dadurch Steuern verkürzt. Ob ein tatbestandsmäßiges In-Unkenntnis-Lassen bereits dann vorliegt, wenn Steuererklärungen pflichtwidrig nicht oder nicht rechtzeitig abgegeben werden oder ob die Norm im Sinne eines ungeschriebenen Tatbestandsmerkmals darüber hinaus erfordert, dass die Finanzbehörde im maßgeblichen Veranlagungszeitpunkt (Abschluss der wesentlichen Veranlagungsarbeiten) über den wahren Sachverhalt (die steuerlich erheblichen Tatsachen) (noch) keine Kenntnis hat, hat der Senat im Streitfall offenlassen können. Denn entgegen der Auffassung der Vorinstanz hatte das FA zum maßgeblichen Veranlagungszeitpunkt von den für die Steuerfestsetzung wesentlichen tatsächlichen Umständen jedenfalls noch keine den Tatbestand des § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO ausschließende Kenntnis.
BFH, Urteil v. 14.5.2025, VI R 14/22; veröffentlicht am 9.10.2025
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