Entscheidungsstichwort (Thema)

Sozialgerichtliches Verfahren. Kostengrundentscheidung. Ermessen. sozialrechtliches Verwaltungsverfahren. Zugang des Widerspruchsbescheids. Bekanntgabefiktion. Beweislast für den Zugangszeitpunkt. Rechtsbehelfsbelehrung. Hinweis auf Widerspruchseinlegung in elektronischer Form erforderlich

 

Orientierungssatz

1. Der Anwendungsbereich der Bekanntgabefiktion des § 37 Abs 2 S 1 SGB 10 ist erst eröffnet, wenn der Tag der Aufgabe des Bescheides nachweisbar ist. Dies geschieht regelmäßig dadurch, dass die Behördenakten einen Vermerk über die Aufgabe zur Post enthalten, durch den der Zeitpunkt, an dem der Bescheid zur Post gegeben wurde, dokumentiert wird.

2. Existiert ein solcher Vermerk nicht, trägt die Behörde nach den allgemeinen Grundsätzen die Beweislast für den Zeitpunkt des Zugangs des Bescheides.

3. Eine Rechtsbehelfsbelehrung ist fehlerhaft, wenn sie nicht auf die Möglichkeit einer elektronischen Einlegung des Widerspruchs nach § 84 Abs 1 S 1 SGG hinweist.

 

Tenor

Der Beklagte hat dem Kläger die notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

 

Gründe

Gemäß § 193 Abs. 1 S. 3 SGG entscheidet das Gericht auf Antrag durch Beschluss, ob und in welchem Umfang die Beteiligten einander Kosten zu erstatten haben, wenn das Verfahren anders als durch Urteil beendet wird.

Vorliegend wurde das Verfahren durch Erklärung des Prozessbevollmächtigten des Klägers vom 15.03.2022 beendet und ein entsprechender Kostenantrag gestellt.

Die Kostengrundentscheidung richtet sich unter Berücksichtigung des bisherigen Sach- und Streitstandes nach billigem Ermessen des Gerichts (Rechtsgedanke des § 91a ZPO und des § 161 Abs. 2 VwGO). Für die auf der Grundlage einer summarischen Prüfung des Sach- und Streitstandes im Zeitpunkt der Erledigung im Rahmen von § 193 Abs. 1 SGG nach sachgemäßem Ermessen zu treffende Entscheidung ist in erster Linie der vermutliche Verfahrensausgang von Bedeutung (BSG Beschl. v. 09.01.1997 - 4 RA 116/95, BeckRS 1997, 30766267, beck-online). Grundsätzlich sind die Verfahrenskosten demjenigen aufzuerlegen, der im Verfahren unterliegt.

Allerdings sind die Erfolgsaussichten sowie der tatsächliche Ausgang des Verfahrens keine alleinigen Kriterien für die Kostenentscheidung. Vielmehr hat das Gericht neben dem Ergebnis des Rechtsstreits billigerweise alle Umstände des Einzelfalles zu berücksichtigen. Ein möglicher Aspekt ist dabei das sog. Veranlassungsprinzip. Grundlage für die Heranziehung des sogenannten „Veranlassungsprinzips“ als Ermessensgesichtspunkt ist die Vorstellung, dass die Kosten des Gerichtsverfahrens demjenigen aufzuerlegen sind, der Anlass für den Rechtsstreit gegeben hat (vgl. HLSG, Beschl. v. 30. Januar 1996, Az. L 4 B 24/95, juris-Rn. 8; Beschl. v. 13. Mai 1996, Az. L 5 B 64/94, juris-Rn. 23; Leitherer in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 13. Auflage 2020, § 193, Rn. 12b). Es gilt also zu prüfen, ob es sich etwa um einen von vornherein vermeidbaren oder überflüssigen Prozess gehandelt hat und wem dieses ggf. zur Last zu legen ist. Insoweit kommt es insbesondere darauf an, ob im Verlaufe des Verwaltungsverfahrens der Leistungsträger seiner Amtsermittlungspflicht und der Leistungsberechtigte seiner Mitwirkungspflicht in hinreichendem Maße nachgekommen sind.

Das Gericht hält unter Beachtung dieser Grundsätze in Ausübung seines Ermessens eine Kostenübernahme durch Beklagten im Umfang von 100% für sachgerecht, da der Beklagte nach summarischer Prüfung vermutlich vollständig unterlegen wäre.

Streitgegenstand des vorliegenden Verfahrens waren der Entziehungsbescheid des Beklagten vom 13.08.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25.08.2021 und der Versagungsbescheid des Beklagten vom 08.02.2021 in der Gestalt der beiden Widerspruchsbescheide vom 25.08.2021.

Die am 26.07.2021 erhobenen Widersprüche gegen den Entziehungsbescheid des Beklagten vom 13.08.2020 und den Versagungsbescheid vom 08.02.2021 waren aus Sicht der Kammer nicht verfristet.

Im Hinblick auf den Entziehungsbescheid vom 13.08.2020 kann der Beklagte sich nicht auf die Norm des § 37 Abs. 2 S. 1 SGB X berufen. Der Anwendungsbereich der Bekanntgabefiktion des § 37 Abs. 2 S. 1 SGB X ist erst eröffnet, wenn der Tag zur Aufgabe des Bescheides nachweisbar ist, was regelmäßig dadurch geschieht, dass die Behördenakten einen Vermerk über die Aufgabe zur Post enthalten, durch den der Zeitpunkt, an dem der Bescheid zur Post gegeben wurde, dokumentiert wird (Schütze/Engelmann, 9. Aufl. 2020, SGB X § 37 Rn. 29). Ein solcher Vermerk findet sich nicht auf dem Entziehungsbescheid vom 13.08.2020.

Insofern trägt der Beklagte nach den allgemeinen Grundsätzen die Beweislast für den Zeitpunkt des Zugangs des Entziehungsbescheides vom 13.08.2020 (BeckOGK/Mutschler, 1.3.2021, SGB X § 37 Rn. 37). Der Entziehungsbescheid war der Kläger jedenfalls am 26.07.2021 bekanntgegeben, da ausweislich eines Eingangsstempels der Prozessbevollmächtigten des Klägers, diese den Entziehungsbescheid vom 13.08.2020 am 26.07.2021 erhalten haben, so da...

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