Entscheidungsstichwort (Thema)

Nachforderung von Gesamtsozialversicherungsbeiträgen bei Arbeitnehmerüberlassung aufgrund des equal-pay-Prinzips

 

Orientierungssatz

1. Nach § 19 Abs. 4 AÜG kann der Leiharbeitnehmer im Fall der Unwirksamkeit der Vereinbarung mit dem Verleiher nach § 9 Nr. 2 AÜG von diesem die Gewährung der im Betrieb des Entleihers für einen vergleichbaren Arbeitnehmer des Entleihers geltenden wesentlichen Arbeitsbedingungen einschließlich des Arbeitsentgelts verlangen.

2. Liegt aufgrund der Vereinbarung eines unwirksamen Tarifvertrages eine wirksame, vom Grundsatz des equal pay zu Lasten des Leiharbeitnehmers abweichende Vereinbarung i. S. von § 9 Nr. 2 AÜG nicht vor, so ist der Arbeitgeber verpflichtet, den Gesamtsozialversicherungsbeitrag für den betroffenen Leiharbeitnehmer jeweils nach dem Arbeitsentgelt zu bemessen, das vergleichbaren Arbeitnehmern in dem Betrieb der jeweiligen Entleiher gezahlt wird.

3. Der Anspruch auf den Gesamtsozialversicherungsbeitrag entsteht dabei, wenn der Arbeitsentgeltanspruch entstanden ist, selbst wenn der Arbeitgeber das Arbeitsentgelt nicht oder erst später gezahlt hat. Der Anspruch entsteht unabhängig davon, ob der Arbeitnehmer das Arbeitsentgelt verlangt hat oder es rechtlich noch verlangen könnte (Anschluss BSG Urteil vom 3. 6. 2009, B 12 R 12/07 R).

 

Tenor

Der Bescheid der Beklagten vom 10.05.2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23.07.2012 wird aufgehoben, soweit die Beklagte Nachforderungen für die Zeit vom 01.01.2006 bis zum 31.12.2006 geltend macht. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Die Kosten des Verfahrens trägt die Klägerin zu drei Vierteln, die Beklagte zu einem Viertel.

Der Streitwert wird auf 95.845,89 Euro festgesetzt.

 

Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist die Nachforderung von Sozialversicherungsbeiträgen für den Zeitraum vom 01.01.2006 bis zum 31.12.2009 aufgrund einer Betriebsprüfung nach § 28p Abs. 1 Viertes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IV) streitig.

Die Klägerin ist ein Unternehmen mit dem Geschäftsgegenstand der gewerblichen Arbeitnehmerüberlassung und im Besitz einer Arbeitnehmerüberlassungserlaubnis nach § 1 Arbeitnehmerüberlassungsgesetz (AÜG). Im streitigen Zeitraum wandte die Klägerin bei der Arbeitsentgeltberechnung für die beschäftigten Leiharbeitnehmer die zwischen dem Arbeitgeberverband Mittelständischer Personaldienstleister (AMP) und der Tarifgemeinschaft Christlicher Gewerkschaften für Zeitarbeit (CGZP) vereinbarten Tarifverträge an und führte auf Grundlage der hiernach ermittelten Arbeitsentgelte Gesamtsozialversicherungsbeiträge ab.

Vom 11.05.2011 bis zum 30.03.2012 führte die Beklagte eine Betriebsprüfung bei der Klägerin durch.

Bereits zuvor hatte die Beklagte im Juli 2009 eine Betriebsprüfung für den Zeitraum vom 01.11.2005 bis zum 31.12.2008 durchgeführt, welche hinsichtlich des Streitgegenstandes zu keiner Beanstandung geführt hatte.

Nach Anhörung der Klägerin durch Schreiben vom 05.04.2012, auf welche diese keine Stellungnahme abgab, forderte die Beklagte von der Klägerin mit Bescheid vom 10.05.2012 für den Zeitraum vom 01.01.2006 bis zum 31.12.2009 Sozialversicherungsbeiträge in Höhe von insgesamt 95.845,89 Euro nach. Zur Begründung führte die Beklagte aus, der Gesetzgeber habe seit dem 01.01.2004 für den Bereich der Arbeitnehmerüberlassung den Grundsatz "equal pay" (gleicher Lohn für gleiche Arbeit) und das Gebot "equal treatment" (gleiche Arbeitsbedingungen) im Gesetz (§ 10 Abs. 4 AÜG) verankert. Das AÜG sehe jedoch einen Ausnahmefall für das gesetzliche Gleichbehandlungsgebot vor. Existiere ein Tarifvertrag, der die Entlohnung der Leiharbeitnehmer regle, könne gemäß § 9 Nr. 2 AÜG vom Gleichbehandlungsgrundsatz auch zum Nachteil des Leiharbeitnehmers abgewichen werden. Dies gelte nicht nur dann, wenn Arbeitgeber und Arbeitnehmer tarifgebunden seien, sondern auch, wenn in Arbeitsverträgen die Geltung von Tarifverträgen vereinbart werde. Im Oktober 2008 sei von der Gewerkschaft Ver.di und dem Land Berlin ein Verfahren nach §§ 97 Abs. 1, 2a Abs. 1 Nr. 4 Arbeitsgerichtsgesetz (ArbGG) zur Feststellung der Tarifunfähigkeit der CGZP vor dem Arbeitsgericht Berlin eingeleitet worden. Mit Beschluss vom 01.04.2009 habe das Arbeitsgericht Berlin unter dem Aktenzeichen 35 BV 17008/08 die Tarifunfähigkeit der CGZP festgestellt. Dieser Beschluss sei auf die Beschwerde der dortigen Beklagten vom Landesarbeitsgericht (LAG) Berlin-Brandenburg am 07.12.2009 (Az. 23 TaBV 1016/09) bestätigt worden. Die zum Bundesarbeitsgericht (BAG) erhobene Rechtsbeschwerde sei am 14.12.2010 (Az. 1 ABR 19/10) als unbegründet zurückgewiesen worden. Zur Begründung sei im Wesentlichen ausgeführt worden, dass die Mitgliedsgewerkschaften der CGZP nach ihrem satzungsgemäßen Geltungsbereich nicht die Tariffähigkeit für die gesamte Zeitarbeitsbranche vermittelten. Die Bestätigung der Tarifunfähigkeit der CGZP durch das BAG habe die Unwirksamkeit der von ihr geschlossenen Tarifverträge zur Folge. Damit komme es zur Anwendung des § 10 Abs. 4 AÜG. Der Leiharb...

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