Entscheidungsstichwort (Thema)

Asylbewerberleistung. Grundleistung. Bedarfssatz. Unterbringung in einer Gemeinschaftsunterkunft. gemeinsame Haushaltsführung. Zumutbarkeit während der Geltung von Kontaktbeschränkungen zur Eindämmung der Corona-Pandemie. verfassungskonforme Auslegung

 

Leitsatz (amtlich)

Die Vorschriften der § 3a Abs 1 Nr 2 Buchst b und Abs 2 Nr 2 Buchst b AsylbLG sind während der Geltung der Kontaktbeschränkungen zur Eindämmung der Corona-Pandemie (SARS-CoV-2-EindmaßnV; juris: CoronaVV BE 3) verfassungskonform dahingehend auszulegen, dass sie als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal die zumutbare gemeinschaftliche Haushaltsführung des Leistungsberechtigten mit anderen in der Sammelunterkunft Untergebrachten voraussetzen. Ist dies nicht der Fall, sind dem Leistungsberechtigten Leistungen in Höhe der Regelbedarfsstufe 1 zu gewähren.

 

Tenor

Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller vorläufig für den Zeitraum vom 17. April 2020 bis 30. Juni 2020, höchstens jedoch bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache, Leistungen nach § 3 AsylbLG für den Zeitraum 17. bis 30. April 2020 in Höhe von 199 Euro sowie für die Monate Mai und Juni 2020 in Höhe von jeweils 351 Euro, jeweils unter Anrechnung der jeweils bereits gezahlten Leistungen, zu zahlen.

Im Übrigen wird der Antrag abgelehnt.

Der Antragsgegner hat 80 % der notwendigen außergerichtlichen Kosten des Antragstellers zu tragen.

Dem Antragsteller wird für das Verfahren vor dem Sozialgericht Berlin Prozesskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwalt ……………. beigeordnet.

 

Gründe

I.

Der Antragsteller begehrt die Bewilligung weitergehender Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) im Wege einstweiligen Rechtsschutzes.

Der 1994 geborene Antragsteller ist irakischer Staatsangehöriger und im Besitz einer Duldung. Seit dem 22. Oktober 2019 bewohnte er zunächst die Sammelunterkunft für Geflüchtete in der R. Str., B. Seit dem 11. Februar 2020 befindet er sich in der Unterkunft A. in B. Er steht im Bezug von Leistungen nach dem AsylbLG beim Antragsgegner.

Mit Bescheid vom 9. Juli 2019 bewilligte der Antragsgegner dem Antragsteller Leistungen nach dem AsylbLG für den Zeitraum Juli 2019 bis November 2020 in Höhe von monatlich 354 Euro. Mit Bescheid vom 22. Oktober 2019 änderte er die Bewilligung für den Zeitraum ab September 2019 aufgrund einer entsprechenden Änderung des AsylbLG dahingehend, dass nur noch ein Betrag von monatlich 310 Euro nach § 3a Abs. 1 und 2 AsylbLG bewilligte werde.

Mit Bescheid vom 16. Dezember 2019 änderte der Antragsgegner die Bewilligung von Leistungen nach dem AsylbLG für den Zeitraum Januar bis Juni 2020 dahingehend, dass er ab Januar 2020 Leistungen gemäß § 1a Abs. 3 AsylbLG erhalte, da er seiner Mitwirkungspflicht zur Passbeschaffung bisher nicht nachgekommen sei. Der Bescheid vom 22. Oktober 2019 werde nach § 48 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) aufgehoben. In Folge bewilligte der Antragsgegner Leistungen in Höhe von monatlich 231,17 Euro zzgl. Kosten der Unterkunft im Wohnheim nach Rechnungslegung durch den Betreiber der Einrichtung.

Mit Schreiben vom 16. Januar 2020 legte der Antragsteller gegen den Bescheid vom 16. Dezember 2019 Widerspruch ein mit der Begründung, er habe Anspruch auf Leistungen nach §§ 3, 3a Abs. 1 und 2 jeweils Nr. 1 AsylbLG.

Mit Bescheid vom 21. Januar 2020 änderte der Antragsgegner die Bewilligungsentscheidung für den Zeitraum Januar bis Juni 2020 dahingehend, dass der Antragsteller ab Januar 2020 Leistungen nach § 3 AsylbLG in Höhe von monatlich 316 Euro zzgl. Kosten der Unterkunft im Wohnheim nach Rechnungslegung erhalte (139 Euro Leistungen nach § 3a Abs. 1 AsylbLG, 177 Euro nach § 3a Abs. 2 AsylbLG). Dem Widerspruch sei teilweise abgeholfen worden. Soweit die Bedarfssätze gemäß § 3a Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 2 Nr. 1 AsylbLG begehrt würden, könne dem Widerspruch nicht abgeholfen werden.

Der Antragsteller ist der Ansicht, der Anspruch auf weitergehender Leistungen ergebe sich aus einer verfassungskonformen Auslegung der §§ 3a Abs. 1 und 2, jeweils Nr. 2b ggf. i.V.m. § 6 Abs. 1 S. 1 AsylbLG i.V.m. Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG. Aufgrund der derzeitigen Empfehlungen zur Eindämmung des neuartigen Coronavirus sei jeder angehalten, die physischen und sozialen Kontakte zu anderen Menschen außerhalb der Angehörigen des eigenen Hausstands auf ein absolut nötiges Minimum zu reduzieren. Wo immer es möglich sei, sei ein Mindestabstand zwischen Personen von 1,5 Metern einzuhalten. Im Nationalen Pandemieplan Teil I (Stand 2. März 2017) des Robert-Koch-Instituts (RKI) werde in Tabelle 1.1 (Seite 8) erklärt, dass zu den notwendigen kontaktreduzierenden Maßnahmen auch Schließungen von Gemeinschaftsunterkünften und/oder Aufnahmestopps in Massenunterkünften gehören müssten. Wenn keine Schließungen erfolgten, so ergäben sich aus den Tabellen 4.2 bis 4.4 (Seite 26ff.) und aus der „Ergänzung zum Nationalen Pandemieplan - COVID-19-neuartige-Coronavirus-Erkrankung“ (Sta...

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