Entscheidungsstichwort (Thema)

Grundsicherung für Arbeitsuchende. Leistungsausschluss für Leistungsberechtigte nach § 1 AsylbLG. Ausreisepflicht. Aufenthaltstitel. Aussetzung des Erteilungsverfahrens wegen eines Strafverfahrens. Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht. Fingierung eines erlaubten Aufenthalts gemäß § 81 Abs 3 S 1 AufenthG 2004. Rechtmäßigkeit des Aufenthalts. Erteilung einer Fiktionsbescheinigung

 

Leitsatz (amtlich)

1. Ein Aufenthaltstitel wird erst mit seiner Bekanntgabe gegenüber dem Ausländer wirksam.

2. Ein Ausländer ohne den erforderlichen Aufenthaltstitel ist vollziehbar ausreisepflichtig, auch wenn zu seinen Gunsten ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs 5 AufenthG (juris: AufenthG 2004) festgestellt ist, und hat damit lediglich Anspruch auf Leistungen nach dem AsylbLG.

3. Die Erteilung einer Fiktionsbescheinigung nach § 81 Abs 3 S 1 AufenthG wirkt lediglich deklaratorisch und vermag für sich genommen den Rechtskreiswechsel zum SGB II nicht zu bewirken.

 

Tenor

Auf die Beschwerde des Beigeladenen wird der Beschluss des Sozialgerichts Kiel vom 17. März 2023 geändert. Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem AsylbLG bis zum 25. April 2023 unter Anrechnung bereits durch den Beigeladenen gezahlter Leistungen zu zahlen. Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.

Die Antragsgegnerin hat dem Antragsteller seine notwendigen außergerichtlichen Kosten für beide Rechtszüge zu erstatten. Im Übrigen sind außergerichtliche Kosten nicht zu erstatten.

 

Gründe

I.

Die Beteiligten streiten im einstweiligen Rechtsschutz darüber, ob der Antragsteller Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) von der Antragsgegnerin oder Bürgergeld vom Beigeladenen beanspruchen kann.

Der 1994 geborene Antragsteller ist syrischer Staatsangehöriger. Er reiste am 4. Juni 2020 erstmals in die Bundesrepublik Deutschland ein. Ein Asylverfahren ist bestands- und rechtskräftig ohne Erfolg abgeschlossen. Mit Bescheid vom 29. April 2021 erhielt der Antragsteller ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 Aufenthaltsgesetz (AufenthG).

Wegen eines Antrags auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis wurde dem Antragsteller am 23. September 2021 vom damals zuständigen Kreis Rendsburg-Eckernförde eine vom 16. September 2021 bis 15. März 2022 gültige und auf der Grundlage des § 81 Abs. 3 Satz 1 AufenthG erstellte Fiktionsbescheinigung ausgehändigt. Wegen des Verdachts einer Straftat wurde die Entscheidung über die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 79 Abs. 2 AufenthG ausgesetzt. Mit Strafbefehl vom 13. Mai 2022 wurde der Antragsteller zu einer Geldstrafe von 30 Tagessätzen á 10,00 EUR verurteilt. Die Geldstrafe wurde vom Antragsteller gezahlt. Dem Antragsteller wurden erneut Fiktionsbescheinigungen erteilt, und zwar am 9. März 2022 mit einer Gültigkeit bis zum 15. September 2022, am 12. September 2022 bzw. am 28. November 2022 mit einer Gültigkeit bis 14. März 2023 und am 24. Januar 2023 mit einer Gültigkeit bis zum 25. April 2023.

Am 17. Oktober 2022 wurde eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 AufenthG wegen eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG erteilt. Nach der in der Ausländerakte befindlichen Historie vom 24. Februar 2023 ist unter dem 28. November 2022 der Vermerk enthalten: „Sperrhinweis gesetzt Grund: Titel nicht aushändigen, da weiteres Strafverfahren anhängig.“ Ein elektronischer Aufenthaltstitel ist dem Antragsteller bisher nicht ausgehändigt worden.

Am 15. November 2022 zog der Antragsteller zu seinem Bruder in das Gebiet der Antragsgegnerin. Daraufhin stellte der Kreis Rendsburg-Eckernförde die Gewährung von Leistungen nach dem AsylbLG mit Bescheid des Amtes Hüttener Berge vom 28. November 2022 zum 1. Dezember 2022 ein.

Laut Untermietvertrag beträgt die monatliche Kaltmiete 228,00 EUR, die Nebenkostenvorauszahlung 45,00 EUR und die monatliche Pauschale für Nebenkosten, Heizung und Warmwasser 38,00 EUR. Der Antragsteller ist seit 1. November 2021 als Gaststättenhilfe mit einer monatlichen Arbeitszeit von 26,5 Stunden zu einem Stundenlohn von 10,45 EUR beschäftigt. Über Vermögen verfügt er nicht.

Einen Antrag beim Beigeladenen vom 29. November 2022 auf Bürgergeld lehnte der Beigeladene mit Bescheid vom 3. Januar 2023 ab, da der Antragsteller Anspruch auf Leistungen nach dem AsylbLG habe. Den Widerspruch des Antragstellers wies der Beigeladene mit Widerspruchsbescheid vom 18. Januar 2023 zurück. Klage wurde vom Antragsteller nicht erhoben.

Mit Bescheid vom 9. Januar 2023 lehnte die Antragsgegnerin den mündlichen An-trag des Antragstellers vom selben Tage auf Leistungen nach dem AsylbLG ab, da der Antragsteller im Besitz einer Fiktionsbescheinigung sei, sein Aufenthalt in Deutschland als erlaubt gelte und er deshalb nicht zum in § 1 AsylbLG definierten leistungsberechtigten Personenkreis gehöre.

Am 30. Januar 2023 sprach der Antragsteller bei dem Beigeladenen vor und bat angesichts der Ablehnung durch die Antra...

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