Entscheidungsstichwort (Thema)

Asylbewerberleistungen. Analogleistungen. rechtsmissbräuchliche Selbstbeeinflussung der Aufenthaltsdauer. Nichtausreise trotz bestehender Ausreisepflicht

 

Leitsatz (amtlich)

Vor dem Hintergrund der vom Bundessozialgericht in seiner Entscheidung vom 17.6.2008 - B 8/9b AY 1/07 R = BSGE 101, 49 = SozR 4-3520 § 2 Nr 2, RdNr 32 ff aufgestellten Grundsätze und angesichts der dort zitierten Gesetzesbegründung (BT-Drs 15/420, S 121) kann bloßes Nichtstun (hier konkret: das Unterlassen der freiwilligen Ausreise) auch bei Leistungsberechtigten, die weder ein materielles Aufenthaltsrecht noch eine formale Rechtsposition haben, nicht rechtsmissbräuchlich iS des § 2 AsylbLG sein.

 

Tenor

Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Sozialgerichts Kiel vom 26. April 2020 aufgehoben.

Der Antragsgegner wird verpflichtet, dem Antragsteller vorläufig Leistungen gemäß § 2 AsylbLG unter Berücksichtigung der Regelbedarfsstufe 1 ab 15. Juli 2020 bis zum 31. Dezember 2020, längstens jedoch bis zur Bestandskraft des Bescheids vom 3. April 2020 zu zahlen.

Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.

Der Antragsgegner trägt die außergerichtlichen Kosten für beide Rechtszüge.

Der Antrag des Antragstellers, ihm Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwältin für das Beschwerdeverfahren zu bewilligen, wird abgelehnt.

 

Gründe

I.

Die Beteiligten streiten im einstweiligen Rechtsschutzverfahren über die Gewährung von Leistungen nach § 2 Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) nach der Regelbedarfsstufe 1.

Der 1984 geborene Antragsteller ist Staatsangehöriger Jemens. Er hält sich seit dem 16. April 2018 in der Bundesrepublik Deutschland auf und lebt seit Mai 2018 in K… in der Gemeinschaftsunterkunft S….

Der Antragsteller beantragte am 20. April 2018 Asyl, ihm wurde eine Aufenthaltsgestattung erteilt (Verweis auf Bl. 2, 53 der Verwaltungsakte - VA).

Im Mai 2018 stellte er beim Antragsgegner einen Antrag auf Leistungen nach dem AsylbLG. Er gab an, in Griechenland bereits als asylberechtigt anerkannt zu sein (Bl. 12 der VA).

Mit Bescheid vom 9. Mai 2018 gewährte der Antragsgegner für den Zeitraum vom 9. Mai bis zum 31. Oktober 2018 eingeschränkte Leistungen gemäß § 1a AsylbLG (Bl. 13 der VA). Den hiergegen gerichteten Widerspruch (Bl. 20 der VA) wies der Antragsgegner mit Widerspruchsbescheid vom 7. Juni 2018 als unbegründet zurück (Bl. 24 der VA).

Den Asylantrag lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) mit Bescheid vom 8. Juni 2018 gemäß § 29 Asylgesetz (AsylG) als unzulässig ab. Die dagegen erhobene Klage wurde mit Urteil des Schleswig-Holsteinischen Verwaltungsgerichts vom 16. Oktober 2018 (Az.: … A …/18) abgewiesen. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wurde am 11. Dezember 2019 durch das Oberverwaltungsgericht zurückgewiesen (Az.: … LA …/18).

Mit Bescheiden vom 24. Oktober 2018, vom 15. März 2019 und vom 13. September 2019 hatte der Antragsgegner dem Antragsteller für den Zeitraum vom November 2018 bis März 2020 eingeschränkte Leistungen gewährt (Bl. 46, 66, 92f. der VA).

Am 31. Dezember 2019 beantragte der Antragsteller die Überprüfung der Leistungsbescheide vom 9. Mai 2018, vom 11. Mai 2018 und vom 24. Oktober 2018 (Bl. 109 der VA). Mit Bescheid vom 5. Februar 2020 lehnte der Antragsgegner den Antrag ab (Bl. 121 der VA). Den hiergegen gerichteten Widerspruch (§ 129 f. VA) wies der Antragsgegner mit Widerspruchsbescheid vom 13. März 2020 als unbegründet zurück (Bl. 131 ff. der VA). Der Bescheid ist Gegenstand des Klageverfahrens zum Az. S 22 AY 27/20 beim Sozialgericht Kiel.

Mit Bescheid vom 18. März 2020 schränkte der Antragsgegner die Leistungen weiterhin für den Zeitraum vom 1. April bis zum 30. September 2020 ein (Bl. 133 der VA).

Aufgrund der Weisungslage im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie gewährte der Antragsgegner mit Bescheid vom 3. April 2020 dem Antragsteller ab 1. April 2020 bis auf weiteres Leistungen gemäß § 3 AsylbLG in Höhe von 316,00 EUR (Bl. 149 ff. der VA).

Der Antragsteller hat am 21. April 2020 beim Sozialgericht Kiel Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gestellt. Der Anordnungsanspruch ergebe sich aus § 2 AsylbLG. Er halte sich unstreitig länger als 18 Monate im Bundesgebiet auf. Er habe die Dauer seines Aufenthalts auch nicht rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst. Ein rechtsmissbräuchliches Verhalten liege nicht schon in der zur Aufenthaltsverlängerung führenden Nutzung der Rechtsposition, die der Ausländer durch vorübergehende Aussetzung der Abschiebung erlangt habe, auch wenn ihm die Ausreise möglich und zumutbar wäre. Die frühere Rechtsprechung des Bundessozialgerichts, die dem entgegenstehe, sei aufgegeben worden. Vielmehr sei ein pflichtwidriges Verhalten zu fordern. Aktuell komme insbesondere aufgrund der Situation der Corona-Pandemie eine Ausreise nach Griechenland nicht in Betracht. Zwar wohne er in einer Unterkunft nach § 53 Abs. 1 AsylG, dennoch habe er einen Anspruch auf die Regelbedarfsstufe 1. Leistungsunterschiede zwischen Leistungsbere...

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