Entscheidungsstichwort (Thema)

Grundsicherung für Arbeitsuchende. Leistungsausschluss für Leistungsberechtigte nach § 1 AsylbLG. vollziehbare Ausreisepflicht. Duldungsfiktion. Freizügigkeitsrecht als Familienangehöriger oder nahestehende Person. nichtehelicher Lebensgefährte und Vater des Kindes einer Unionsbürgerin- unionsrechtliches Aufenthaltsrecht sui generis. faktischer Zwang zum Verlassen des Unionsgebiets

 

Leitsatz (amtlich)

1. Ist der Lebensgefährte einer Unionsbürgerin und Vater des gemeinsamen noch nicht schulpflichtigen Kindes selbst kein Unionsbürger und hat einen Aufenthaltstitel aus familiären Gründen beantragt, sodass die Abschiebung gem § 81 Abs 3 S 2 AufenthG (juris: AufenthG 2004) ausgesetzt ist, kann er nach dem AsylbLG leistungsberechtigt sein. Es greift insoweit die Auffangvorschrift für vollziehbar ausreisepflichtige Ausländer gem § 1 Abs 1 Nr 5 AsylbLG, wenn kein Leistungsausschluss nach § 1 Abs 4 AsylbLG besteht.

2. Das Unionsrecht verleiht dem Ausländer in diesem Fall keine eigene Rechtsposition, die ein Aufenthaltsrecht begründet. Er ist nicht freizügigkeitsberechtigt nach dem FreizügG/EU (juris: FreizügG/EU 2004). Ein Freizügigkeitsrecht ergibt sich nicht aus §§ 2 Abs 2 Nr 6, 3 Abs 1 S 1 FreizügG/EU, weil er kein Familienangehöriger der Unionsbürgerin ist. Es folgt auch nicht aus § 3a FreizügG/EU, wenn sein Lebensunterhalt nicht gesichert ist. Ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht sui generis scheidet aus, wenn nicht zu befürchten ist, dass die Unionsbürgerin mit dem Kind aufgrund der Abhängigkeit von ihm faktisch gezwungen ist, das Unionsgebiet insgesamt zu verlassen. Allein die faktische Notwendigkeit für die Unionsbürgerin, in einen anderen Mitgliedstaat zurückzukehren, weil nur dort alle Familienmitglieder einen gesicherten Aufenthaltsstatus haben, stellt keine mit dem faktischen Zwang zum Verlassen des Unionsgebietes vergleichbare Einschränkung ihres Unionsbürgerrechts dar.

 

Tenor

Die Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des Sozialgerichts Halle vom 2. August 2021 (L 2 AS 490/21 B ER) wird zurückgewiesen. Der Beschluss des Sozialgerichts Halle vom 17. November 2021 (L 2 AS 642/21 B ER) wird mit Wirkung ab dem 1. Februar 2022 abgeändert. Die Beigeladene wird verpflichtet, dem Antragsteller für die Zeit vom 1. Februar bis zum 31. März 2022 vorläufig Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz in gesetzlicher Höhe zu gewähren. Soweit das Sozialgericht den Antragsgegner zu Leistungen über den 31. Januar 2022 hinaus verpflichtet hat, wird der Beschluss aufgehoben. Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.

Die Beigeladene hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Antragstellers in beiden Verfahren zu erstatten.

 

Gründe

I.

Der Antragsteller begehrt im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes für den Zeitraum Juli bis September 2021 (im Verfahren L 2 AS 490/21 B ER) und von Oktober 2021 bis März 2022 (im Verfahren L 2 AS 642/21 B ER).

Der am ... 1988 geborene Antragsteller ist nigerianischer Staatsbürger. Er war nach eigenen Angaben 2009 im Wege des Familiennachzuges (zu seiner Mutter) nach Italien eingereist. Dort hatte er aufgrund einer Einzelarbeitserlaubnis auch eine Beschäftigung ausgeübt. Seine italienische Aufenthaltsgenehmigung („permesso di soggiorno“) aus familiären Gründen war bis zum 29. Mai 2020 gültig. Nach seinen Angaben ist er am 23. Januar 2020 aus V in Italien eingereist und in H. bei seiner hochschwangeren Lebensgefährtin angekommen. Seine Lebensgefährtin L, geb. am ... 1987, ist italienische Staatsangehörige und bereits im September 2019 nach Deutschland eingereist und dort seit dem 27. September 2019 melderechtlich erfasst. Das gemeinsame Kind O ist am ... 2020 in H. geboren worden und ebenfalls italienische Staatsangehörige. Der Antragsteller erkannte die Vaterschaft an. Zudem gaben die Eltern eine beurkundete Erklärung gem. § 1626a Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) ab, die elterliche Sorge gemeinsam übernehmen zu wollen. Nach seinen Angaben hätten er und Frau L sich in Italien kennengelernt und seien bereits dort seit 2014 ein Paar gewesen.

Frau L arbeitete vom 24. Juni bis zum 30. September 2020 als Kellnerin in einem Eiscafé in H.. Seit Mitte 2020 (nach dem Mietvertrag seit 15. August 2020) wohnt der Antragsteller mit Frau L und der gemeinsamen Tochter in einer 2-Zimmerwohnung in der S-Straße in H., wofür eine monatliche Gesamtmiete in Höhe von 380 €, bestehend aus der Grundmiete in Höhe von 280 €, Nebenkostenvorauszahlungen in Höhe von 37 € und Heizkostenvorauszahlungen in Höhe von 63 €, zu zahlen ist.

Mit Bescheid vom 3. Februar 2021 bewilligte der Antragsgegner dem Antragsteller zusammen mit Frau L und dem Kind Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch - Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II) bis zum 31. März 2021.

Am 17. Februar 2021 beantragte der Antragsteller einen elektronischen Aufenthaltstitel (eAT) bei der Beigeladenen (der Stadt H.). Er stellt...

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