Entscheidungsstichwort (Thema)

Anspruch des Transsexuellen weiblichen Geschlechts auf Entfernung des Barthaares durch Nadelepilation in einem Kosmetikstudio

 

Orientierungssatz

1. Die Kostenübernahme einer Barthaarentfernung durch Nadelepilation bei einem Transsexuellen weiblichen Geschlechts zählt zu den Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung. Ist die Krankenkasse nicht in der Lage, einen behandlungsbereiten Vertragsarzt zu benennen, so kann der Versicherte die begehrte Behandlung auch durch ein Kosmetikstudio beanspruchen.

2. In einem solchen Fall liegt ein Systemversagen vor, zu dessen Überwindung die Inanspruchnahme nicht zugelassener nichtärztlicher Leistungserbringer in Betracht kommt.

3. Zielsetzung der Therapie eines Transsexuellen ist es, den Leidensdruck des Betroffenen dadurch zu lindern, dass das körperlich bestehende Geschlecht dem empfundenen Geschlecht angenähert wird. Hierzu zählt das Erfordernis der Entfernung des männlichen Barthaares durch Nadelepilation.

 

Normenkette

SGB V § 15 Abs. 1 Sätze 1-2, § 75 Abs. 1, § 135 Abs. 1 S. 1; TSG § 8 Abs. 1; SGB I § 17 Abs. 1; SGG § 99 Abs. 1-2, 3 Nr. 3, § 78 Abs. 1 Sätze 1-2

 

Tenor

Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 26.06.2012 geändert. Die Klage wird abgewiesen.

Die Beklagte hat der Klägerin die Kosten des Verfahrens zu erstatten.

 

Tatbestand

Die Klägerin begehrt die Gewährung einer Nadel- bzw. Elektroepilation als Sachleistung bzw. die Übernahme der dadurch entstehenden Kosten.

Die 1955 geborene Klägerin ist bei der Beklagten krankenversichert. Aufgrund rechtskräftigen Beschlusses des Amtsgerichts (AG) Dortmund vom 25.03.2008 (302 lll 00/00 T) gehört sie nach § 8 Transsexuellengesetz (TSG) dem weiblichen Geschlecht an. Anfang August 2007 beantragte sie die Übernahme von Kosten der Epilation von Barthaaren. In einem Attest vom 25.06.2007 wies der behandelnde (Haut-) Arzt Q darauf hin, dass eine Hormontherapie bereits eingeleitet worden sei und eine dauerhafte Laser-/BIitzlampenepilation empfohlen werde.

Die Beklagte erklärte daraufhin, vor einer Entscheidung ihrerseits sei zunächst das Ergebnis des beim AG anhängigen Gerichtsverfahrens zur Änderung des Vornamens abzuwarten. Nach Vorlage des amtsgerichtlichen Beschlusses vom 25.03.2008 (a.a.O.), dem zwei Sachverständigengutachten zu Grunde lagen, erklärte sie in einem Schreiben vom 02.05.2008, eine lasergestützte Barthaar-Epilation zu finanzieren, wenn aus sozialmedizinischer Sicht die Annahme eines "Versicherungsfalls von Krankheit" begründet werden könne. Hierzu würden weitere medizinische Unterlagen benötigt (u.a. formloser Bericht eines Endokrinologen, formloser Bericht eines Psychotherapeuten, das Original des Attests des Hautarztes Q).

Mit einem Schreiben vom 07.05.2008 mahnte die Klägerin eine schnellstmögliche Bewilligung an, weil die Barthaare tagtäglich grauer würden, graue Barthaare nicht mittels Laser entfernt werden könnten und dann eine Nachbehandlung im Wege der Nadelepilation erfolgen müsse, die kaum noch jemand ausübe. Ein dementsprechender Antrag werde nachgereicht, wenn er nötig werden sollte.

Nach Eingang des Befundberichts eines Endokrinologen am 06.06.2008 teilte die Beklagte der Klägerin erst unter dem 24.09.2008 mit, zwischenzeitlich sei eine Grundsatzprüfung erfolgt. Mit Blick auf die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) vom 10.02.1993 (1 RK 14/92), wonach nicht alle Erscheinungsformen der Transsexualität als Krankheit im versicherungsrechtlichen Sinne verstanden werden könnten, komme nur dann eine Geschlechtsangleichung bzw. Laserepilation der Barthaare in Betracht komme, wenn psychiatrische und psychotherapeutische Mittel das Spannungsverhältnis zwischen dem körperlichen Geschlecht und der seelischen Identifizierung mit dem anderen Geschlecht nicht lindern oder zu beseitigen könnten. Die Klägerin habe entsprechende Nachweise noch nicht erbracht.

Der behandelnde Facharzt für Psychotherapie Dr. T vermochte dies in einem Schreiben vom 06.10.2008 nicht nachzuvollziehen und wies auf die bereits von ihm vorgelegten Unterlagen hin. Eine Reaktion der Beklagten erfolgte trotz eines Schreibens des Bevollmächtigten der Klägerin vom 24.10.2008 nicht.

Anfang Dezember 2008 beantragte die Klägerin die Übernahme der Kosten einer geschlechtsangleichenden Operation. Nach neuerlicher anwaltlicher Intervention beauftragte die Beklagte Ende Januar 2009 den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) mit der Erstellung eines psychiatrischen Gutachtens zur Frage des Vorliegens eines ihre Leistungspflicht auslösenden Versicherungsfalles. Mit Gutachten vom 10.06.2009 gelangte der MDK zu dem Ergebnis, es liege eine manifeste Transsexualität Mann-zu-Frau vor. Gegengeschlechtlich-hormonärztIiche und psychotherapeutisch-psychiatrische Behandlungsmöglichkeiten seien ausgeschöpft. Sowohl die geschlechtsangleichende Operation als auch die Epilation der Barthaare seien medizinisch begründet. Hinsichtlich der Operation bedürfe es einer weiteren Begutacht...

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