Entscheidungsstichwort (Thema)

Soziales Entschädigungsrecht. Opferentschädigung. Beschädigtenversorgung. kein Anspruch auf medikamentöse Empfängnisverhütungsmittel. Unfähigkeit zur eigenen Sicherstellung des Lebensunterhalts infolge der Schädigung. Angewiesenheit auf Grundsicherungsleistungen. Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft

 

Orientierungssatz

1. Nach den Vorschriften des OEG iVm § 10 BVG besteht kein Anspruch auf Versorgung mit medikamentösen Empfängnisverhütungsmitteln.

2. Für die Klägerin kommt ein solcher Anspruch auch deshalb nicht in Betracht, weil sie bereits das 20. Lebensjahr vollendet hat (vgl § 11 Abs 1 S 2 BVG iVm § 24a SGB 5).

3. Ein Gewaltopfer, das infolge der Schädigungsfolgen außerstande ist, seinen Lebensunterhalt auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu verdienen, ist im Hinblick auf die Beschädigtenversorgung nach §§ 30 ff BVG und möglichen ergänzenden Leistungen der Grundsicherung nach dem SGB 12 nicht gänzlich einkommenslos.

4. Nicht zu prüfen ist in diesem Zusammenhang die Frage, ob die Beschädigte durch eine Elternschaft derart überfordert wäre, dass ihr ernsthaft der alsbaldige Eintritt von Gesundheitsstörungen drohen würde. Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang auf die Möglichkeiten, ein Kind bereits zeitnah nach der Geburt in Pflege oder zur Adoption zu geben.

5. Es besteht grundsätzlich kein behinderungsbedingter Bedarf für die Versorgung mit Empfängnisverhütungsmitteln als Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft nach § 55 SGB 9.

 

Nachgehend

BSG (Beschluss vom 08.09.2016; Aktenzeichen B 9 V 13/16 B)

 

Tenor

Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Braunschweig vom 4. September 2013 wird zurückgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten darüber, ob der Klägerin nach den Vorschriften des Opferentschädigungsgesetzes (OEG) i.V.m. dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) die Versorgung mit Empfängnisverhütungsmitteln zusteht.

Bei der 1992 geborenen Klägerin hatte der Beklagte zuletzt mit Bescheid vom 12. April 2011 als Folge von Misshandlungen und böswilliger Vernachlässigung der Klägerin in ihren ersten zweieinhalb Lebensjahren als Schädigungsfolge

Funktionsschädigung des Gehirns mit Entwicklung von geistiger und seelischer Behinderung

mit einem dadurch gemäß § 30 Abs. 1 BVG bedingten Grad der Schädigungsfolgen (GdS) von 70 seit dem 1. Mai 2007 festgestellt und der Klägerin einen Anspruch auf Versorgung ab dem genannten Zeitpunkt zuerkannt.

Die Heilbehandlung der Klägerin gewährt für das beklagte Land die beigeladene Krankenversicherung. Nachdem die Pflegeeltern der Klägerin sich im April 2012 wegen der Frage der weiteren Versorgung der Klägerin mit empfängnisverhütenden Medikamenten an die Beigeladene gewandt hatten, teilte diese mit Schreiben vom 16. April 2012 mit, dass eine Kostenübernahme für Verhütungspräparate nach § 24a SGB VI ausgeschlossen sei. Der Beklagte verneinte mit Schreiben vom selben Tag ebenfalls die Gewährung derartiger Leistungen. Mit dem gegen die Bescheidung der Beigeladenen erhobenen Widerspruch machte die Klägerin insbesondere geltend, in einem Merkblatt des Landesamtes für Soziales, Jugend und Familie werde ausgeführt, dass Schwerbeschädigte auch Leistungen zur Verhütung einer Schwangerschaft erhalten könnten. Nachdem die Beigeladene dem Widerspruch der Klägerin nicht abgeholfen hatte, wies der Beklagte den Widerspruch mit Bescheid vom 8. August 2012 als unbegründet zurück. Weder in § 10 Abs. 6 BVG noch in dem Merkblatt sei von Empfängnisverhütung, sondern von der Verhütung von Krankheiten die Rede. Im Übrigen seien die Vorschriften für die Leistungen der Mitglieder der gesetzlichen Krankenversicherungen entsprechend anzuwenden. Versicherte hätten gemäß § 24a SGB V nur bis zum vollendeten 20. Lebensjahr Anspruch auf Versorgung mit empfängnisverhütenden Mitteln. Aufgrund des Alters der Klägerin seien diese Voraussetzungen nicht erfüllt.

Dagegen hat die Klägerin Klage zum Sozialgericht Braunschweig erhoben und geltend gemacht, der Beklagte sei zur Gewährung von Leistungen zur Empfängnisverhütung verpflichtet. Infolge der Gewalttat könne die Klägerin ihren Lebensunterhalt nicht selbst bestreiten. Sie könne deshalb auch nicht die empfängnisverhütenden Mittel bezahlen. Für die Anwendung des § 24a SGB V dürfe es nicht auf das Lebensalter sondern allein auf die wirtschaftliche Hilfsbedürftigkeit ankommen. Außerdem bestehe ein Anspruch auf die Kostenübernahme nach §§ 53, 54 SGB XII i.V.m. § 55 Abs. 1 SGB IX. Im Übrigen sei der Wortlaut des § 10 Abs. 6 BVG nicht eindeutig.

Nach Beiladung der Krankenkasse hat das Sozialgericht die Klage mit Urteil vom 4. September 2013 als unbegründet abgewiesen. Soweit die Klägerin Kostenerstattung für in der Vergangenheit bereits beschaffte empfängnisverhütende Medikamente begehre, komme als Anspruchsgrundlage allein § 18 Abs. 4 Satz 1 BVG in Betracht. Voraussetzung für den Erstattungsanspruch sei jedoch, dass unvermeidbare Umstände eine ...

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