Entscheidungsstichwort (Thema)

sozialgerichtliches Verfahren. Versäumung der Klagefrist. Bekanntgabe des Widerspruchsbescheides. Zeitpunkt des Eingangs oder der Vollziehung des Empfangsbekenntnisses des Rechtsanwalts. Anforderungen an den Beweis der Unrichtigkeit des Empfangsbekenntnisses

 

Orientierungssatz

1. Für den Beginn und den Ablauf der Klagefrist nach § 87 Abs 1 S 1, Abs 2 SGG kommt es nicht auf den späteren Zeitpunkt der Vollziehung des Empfangsbekenntnisses durch den Rechtsanwalt, sondern auf den früheren Zeitpunkt des Eingangs des Widerspruchsbescheides an, wenn das auf dem Empfangsbekenntnis eingetragene Datum nach Überzeugung des Gerichts nachweislich falsch ist.

2. Ein datiertes und unterschriebenes Empfangsbekenntnis stellt eine öffentliche Urkunde iS des § 418 ZPO dar und ist zwar grundsätzlich geeignet, den vollen Beweis dafür zu erbringen, dass die dort eingetragenen Umstände den Tatsachen entsprechen. Die Beweiskraft des Empfangsbekenntnisses kann jedoch erschüttert werden, wenn auch für ein anderes Empfangsdatum der volle Gegenbeweis zu führen ist; die bloße Wahrscheinlichkeit oder gar nur die Möglichkeit der Fehldatierung genügt nicht (vgl BSG vom 8.7.2002 - B 3 P 3/02 R = SozR 3-1500 § 164 Nr 13, BSG vom 16.11.2005 - B 2 U 342/04 B = SozR 4-1500 § 164 Nr 2, BVerfG vom 27.3.2001 - 2 BvR 2211/97 = NJW 2001, 1563, BGH vom 28.9.1994 - XII ZR 250/93 = FamRZ 1995, 799 und vom 24.4.2001 - VI ZR 258/00 = NJW 2001, 2722).

3. Ein ausreichender Gegenbeweis für die vermutete Richtigkeit des Empfangsbekenntnisses ist erbracht, wenn mit der Klageschrift der Widerspruchsbescheid eingereicht wurde, der einen abgezeichneten Posteingangsstempel des Büros des Prozessbevollmächtigten zum früheren Zugang des Widerspruchsbescheides ausweist und nicht dargelegt bzw unter Beweis gestellt ist, dass es dem Prozessbevollmächtigten aus organisatorischen oder sonstigen Gründen nicht möglich war, das Empfangsbekenntnis am Tag des Eingangs zu unterzeichnen.

 

Nachgehend

BSG (Urteil vom 21.12.2009; Aktenzeichen B 14 AS 63/08 R)

 

Tenor

Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Hannover vom 06. Februar 2007 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Der Kläger begehrt die Gewährung von höheren Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch - Grundsicherung für Arbeitsuchende - (SGB II). Streitig ist die Einhaltung der Klagefrist.

Die Beklagte wies durch Widerspruchsbescheid vom 20. September 2006 den Widerspruch des Klägers gegen den Bewilligungsbescheid vom 18. Juli 2006 zurück, soweit durch Änderungsbescheid vom 6. September 2006 nicht abgeholfen wurde. Ausweislich des Posteingangsstempels der Prozessbevollmächtigten des Klägers ging der Widerspruchsbescheid am 27. September 2006 bei diesen ein. Neben dem Posteingangsstempel vom 27. September 2006 wurde handschriftlich vermerkt: "EB: 29.09.06".

Die am 30. Oktober 2006 eingegangene Klage hat das Sozialgericht Hannover durch Gerichtsbescheid vom 6. Februar 2007 als verfristet abgewiesen. Hiergegen richtet sich die Berufung des Klägers vom 2. März 2007.

Der Kläger trägt vor, der Sozialrichter sei irrtümlich davon ausgegangen, dass es darauf ankomme, wann der Eingangsstempel auf einem Schriftstück ausgebracht werde. Dies spiele jedoch nach einer Entscheidung des Bundesgerichtshofes vom 7. Juni 1990 - III ZR 216/89 - keine Rolle. Es komme nicht darauf an, wann der betreffende Rechtsanwalt das Schriftstück als zugestellt entgegengenommen habe, sondern ausschließlich auf die Vollziehung des Empfangsbekenntnisses. Das Empfangsbekenntnis trage das Datum 29. September 2006. Erst an diesem Tage sei dieses vollzogen worden. Die Klagefrist sei mit Eingang vom 30. Oktober 2006 gewahrt worden, weil der 29. Oktober 2006 ein Sonntag sei.

Der Kläger beantragt,

1.

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Hannover vom 6. Februar 2007 und den Bescheid der Beklagten vom 18. Juli 2006 nebst Änderungsbescheid vom 6. September 2006 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. September 2006 zu ändern,

2.

die Beklagte zu verurteilen, ihm für die Zeit vom 1. Juli bis zum 31. Dezember 2006 höhere Leistungen zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Die Beklagte verteidigt die erstinstanzliche Entscheidung.

Wegen des vollständigen Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakte sowie die beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten Bezug genommen.

 

Entscheidungsgründe

Die zulässige Berufung des Klägers ist unbegründet. Das Sozialgericht hat zutreffend durch Prozessurteil entschieden. Der Kläger kann wegen eines Büroverschuldens seiner Prozessbevollmächtigten keine inhaltliche Überprüfung seines Begehrens verlangen.

Die Klagefrist beträgt gemäß § 87 Abs. 1 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) einen Monat nach Bekanntgabe des Verwaltungsaktes. Gemäß § 87 Abs. 2 SGG beginnt die Frist für den Fall der Durchführung eines Vorverfahrens mit der Bekanntgabe des Widerspruchsbescheide...

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