Entscheidungsstichwort (Thema)

Soziales Entschädigungsrecht. Häftlingshilfe. Wohnortbeschränkung von Russlanddeutschen in der UdSSR. Atomwaffen-Tests in der Nähe des Wohnorts. Strahlungsschäden als Schädigungsfolge. Anschlussgewahrsam. Ursächlichkeit der Gewahrsamnahme. gleiche Gefährdung wie einheimische Wohnbevölkerung. wirtschaftliche Not durch Kommandanturaufsicht. sozialgerichtliches Verfahren. keine Bindungswirkung eines Teilanerkenntnisses im Hinblick auf die einzelnen Tatbestandsvoraussetzungen

 

Leitsatz (amtlich)

§ 4 Abs 1 HHG setzt eine gesundheitliche Schädigung "infolge" des Gewahrsams voraus. Es muss eine kausale Beziehung zwischen dem gesetzlich geschützten Umstand des Gewahrsams und der Gesundheitsstörung vorliegen. Das ist dann nicht der Fall, wenn es sich um Auswirkungen von Umständen handelt, denen nicht nur die in Gewahrsam Genommenen, sondern unterschiedslos die gesamte Wohnbevölkerung eines großen Gebietes ausgesetzt war (hier Auswirkungen der radioaktiven Strahlung durch die Atomtests in Semipalatinsk, jetzt Semei). Dies gilt insbesondere, wenn die in Gewahrsam Genommene im Prinzip nicht gehindert war, das fragliche Gebiet zu verlassen.

 

Orientierungssatz

1. Kerngehalt der Gewahrsamnahme - insbesondere auch im Fall des Anschlussgewahrsams iS von § 1 Abs 5 S 2 HHG - ist der Umstand, dass den Gewahrsamspersonen die Freiheit zur Gestaltung ihrer Lebensbedingungen in gewissen Rahmen genommen ist und das sie den sich daraus ergebenden Beschränkungen nicht auszuweichen in der Lage sind.

2. Dass die Familie aufgrund geringer Einkünfte in der Zeit der Kommandanturaufsicht später gezwungen war, ihren Wohnsitz in der Nähe von Verwandten zu nehmen, vermag insoweit eine unmittelbare Ursächlichkeit des Gewahrsams ebenfalls nicht zu begründen.

3. Erkennt die beklagte Behörde in einem Teilanerkenntnis eine einzelne Gesundheitsstörung als Schädigungsfolge an, sind damit nicht zugleich alle einzelnen tatbestandlichen Voraussetzungen (hier: ionisierende Strahlung als schädigendes Ereignis iS von § 4 HHG) zwischen den Beteiligten bindend festgestellt.

 

Nachgehend

BSG (Urteil vom 12.09.2019; Aktenzeichen B 9 V 2/18 R)

 

Tenor

Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Hannover vom 28. Februar 2014 wird zurückgewiesen.

Kosten haben die Beteiligten einander nicht zu erstatten.

Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten darüber, ob bei der Klägerin weitere Gesundheitsstörungen als Schädigungsfolgen festzustellen und ihr deswegen Beschädigtenversorgung nach den Vorschriften des Häftlingshilfegesetzes (HHG) in Verbindung mit dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) zu gewähren ist.

Die im Gebiet der Ukraine geborenen Eltern der Klägerin deutscher Volkszugehörigkeit übersiedelten im Jahr 1944 in das Gebiet des Deutschen Reiches und erhielten Ende 1944 bzw. Anfang 1945 die deutsche Staatsbürgerschaft. Ende 1945 wurden sie mit Rücksicht auf ihre im Gebiet der ehemaligen UdSSR gelegenen Geburtsorte aus I. in eine sog. Sondersiedlung in der Nähe von J. /Sibirien verbracht. Dort standen sie unter Kommandanturaufsicht und mussten Zwangsarbeiten verrichten. Dort wurde im Dezember 1955 auch die Klägerin geboren. Nach dem Ende der Kommandanturaufsicht verzog die Familie der Klägerin im Jahr 1957 zu Verwandten nach K. /Kasachstan. Dort wohnte die Klägerin sich bis Mitte der 1970er Jahre auf und zog dann mit ihren Eltern nach Moldawien, von wo aus sie 1979 in die Bundesrepublik Deutschland ausreiste. Die Klägerin ist Inhaberin eines Vertriebenenausweises A und einer Bescheinigung des Landkreises Hannover vom 24. Juni 1981, in der festgestellt wird, dass die Gesamtzeit zwischen der Geburt der Klägerin und ihrer Ausreise aus der UdSSR politischer Gewahrsam im Sinn von § 1 Abs. 1 Nr. 1 HHG vorgelegen hat. Die Klägerin hat dann nach der Absolvierung von Deutschkursen in der Bundesrepublik gearbeitet. Seit 1998 bezieht sie Rente wegen Erwerbsunfähigkeit.

Im November 2007 beantragte die Klägerin bei dem Beklagten Beschädigtenversorgung nach dem BVG wegen gesundheitlicher Störungen, die sie insbesondere auf den Aufenthalt in K. zurückführte. In diesem Zusammenhang wies sie auf die in der Nähe dieses Ortes durchgeführten Atombombenversuche sowie auf eine erlittene Borellien-Infektion hin. Sie leide noch an Depressionen, Angst, Panikattacken, Schlafstörungen, Kopfschmerzen, Gelenk- und Rückenschmerzen, einer Autoimmunkrankheit der Schilddrüse und Magen-Darm-Beschwerden. 2005 sei ihre Gallenblase entfernt worden. Die Klägerin legte hierzu vielfältige medizinische Unterlagen vor, insbesondere ihrer behandelnden Ärzte, die ihre Auffassung stützten, die Gesundheitsstörungen seien auf die Einwirkungen in K. zurückzuführen. Nach Einholung von Gutachten auf nervenärztlichem Gebiet von dem Arzt L. und von Dr. M. sowie auf neurologischem Gebiet von Prof. Dr. N. lehnte der Beklagte Beschädigtenversorgung nach dem HHG mit Bescheid vom 17. April 2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. Oktober 2010 ab. Erst 16...

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