Entscheidungsstichwort (Thema)

Gesetzliche Unfallversicherung. Arbeitsunfall. mittelbare Gesundheitsstörung. komplexes regionales Schmerzsyndrom bzw Morbus Sudeck. Zugunstenverfahren gem § 44 SGB 10. bloßer Ausführungsbescheid. kein neues Vorbringen. unrichtige Rechtsanwendung

 

Orientierungssatz

1. Zur Anerkennung eines Morbus Sudeck bzw eines komplexen regionalen Schmerzsyndroms (CRPS) am Arm als mittelbare gesundheitliche Folge eines Arbeitsunfalles im Rahmen eines Zugunstenverfahrens gem § 44 SGB 10, weil bei Erlass der streitgegenständlichen Bescheide das Recht unrichtig angewandt worden war.

2. Auch ein bloßer Ausführungsbescheid - ohne eigenen Regelungsgegenstand - hinsichtlich der erstinstanzlichen Entscheidung kann möglicher Gegenstand eines Überprüfungsverfahrens nach § 44 SGB 10 sein.

3. Auch ohne neues Vorbringen (hier: im Hinblick auf den erst- und zweitinstanzlichen Klägervortrag des gerichtlichen Ausgangsverfahrens) haben Gerichte und Verwaltung im Rahmen eines Zugunstenverfahrens gem § 44 SGB 10 zu prüfen, ob bei Erlass des bindend gewordenen Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt wurde.

 

Nachgehend

BSG (Urteil vom 26.10.2017; Aktenzeichen B 2 U 6/16 R)

 

Tenor

1. Auf die Berufung der Klägerin werden der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Schwerin vom 23. Juli 2009 sowie der Bescheid der Beklagten vom 4. August 2005 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 6. Dezember 2005 aufgehoben.

2. Die Beklagte wird unter teilweiser Rücknahme der Bescheide vom 10. August 2000 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14. November 2000 sowie des Bescheides vom 24. März 2005 verpflichtet, der Klägerin unter Anerkennung eines komplexen regionalen Schmerzsyndroms ihres linken Armes als mittelbare Folge ihres Arbeitsunfalles vom 5. Mai 1995 ab dem 1. Januar 2001 eine Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von 60 v. H. zu gewähren.

3. Die Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin beider Rechtszüge.

4. Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten im Rahmen eines Zugunstenverfahrens nach § 44 SGB X darüber, ob ein komplexes regionales Schmerzsyndrom (CRPS) am linken Arm der Klägerin als mittelbare gesundheitliche Folge ihres Arbeitsunfalles vom 5. Mai 1995 anzuerkennen und mit einer höheren Verletztenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung zu entschädigen ist.

Die 1969 geborene Klägerin befand sich als Geschäftsführerin der Firma A. Reinigungsservice am 5. Mai 1995 mit dem PKW auf dem Weg zu einer Schulungsmaßnahme, als sie bei einem Überholvorgang von einem LKW von der Straße abgedrängt wurde, mit dem PKW in den Straßengraben geriet und sich überschlug.

Der Durchgangsarzt Dr. K. diagnostizierte anlässlich der Vorstellung der Klägerin vom 5. Mai 1995 bei dieser eine HWS-Distorsion sowie eine leichte Kontusion des rechten seitlichen Schädels. Röntgenologisch fand sich kein Frakturanhalt und eine Steilstellung der HWS.

Der behandelnde Chirurg DM H. teilte in seinem Arztbrief vom 20. Dezember 1995 mit, die Klägerin befinde sich seit dem 15. Mai 1995 in seiner Behandlung. Die Röntgenaufnahmen der HWS hätten keinen Anhalt für eine Fraktur ergeben. Ein MRT der HWS vom 23. August 1995 habe einen Bandscheibenvorfall zwischen dem 5. und 6. Halswirbelkörper (HWK) gezeigt. Am 7. November 1995 sei die Ausräumung der Bandscheibe zwischen dem 5. und 6. HWK mit einer ventralen Fusion mittels Titanimplantat in diesem Bereich erfolgt. Auch nach dieser Operation bestünden bei der Klägerin im Schulter-Nackenbereich starke nachhaltige Schmerzen mit Bewegungseinschränkungen der HWS.

Die Beklagte führte das chirurgische Gutachten des Dr. H. vom 26. Januar 1996 herbei. Dieser Arzt führte zusammenfassend aus, die Klägerin habe unfallbedingt eine HWS-Zerrung erlitten, die im weiteren Verlauf zu therapieresistenten Schmerzen mit Ausbildung von Sensibilitätsstörungen in der linken Hand geführt habe. Der diagnostizierte Bandscheibenvorfall bei C5/6 sei ursächlich auf das erlittene Halswirbelsäulenbeschleunigungstrauma vom 5. Mai 1995 zurückzuführen. Als Unfallfolgen bestünden eine schmerzhafte Bewegungseinschränkung der HWS sowie die operativ herbeigeführte Versteifung des Segmentes C5/6. Die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) werde mit 20 eingeschätzt.

In seinem röntgenologischen Gutachten vom 10. Februar 1996 gelangte Dr. G. zu dem Ergebnis, dass keine Hinweise auf posttraumatische ossäre Veränderungen bestünden sowie keine Hinweise auf eine Gefügelockerung der HWS.

Aufgrund zahlreicher ärztlicher Behandlungen der Klägerin zog die Beklagte diverse medizinische Unterlagen und Arztbriefe bei, so u. a. den Arztbrief des Dr. B. von der Nervenklinik A-Stadt vom 24. April 1996. Dr. S. von der Klinik für Neurochirurgie des Klinikums A-Stadt berichtete in seinem Arztbrief vom 14. Juni 1996 über die am 23. April 1996 durchgeführte Operation an der HWS der Klägerin. Es sei eine Revision der ventralen Fusion zwischen C5 und C6 erfolgt, eine Freilegung der linksseitigen radiku...

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