Entscheidungsstichwort (Thema)

Grundsicherung für Arbeitsuchende. vorrangige Sozialleistung. vorzeitige Altersrente. Antragstellung durch den Grundsicherungsträger. Unbilligkeitstatbestände. Ermessensausübung und Amtsermittlungspflicht des Grundsicherungsträgers

 

Leitsatz (amtlich)

Treten die atypischen Umstände des Einzelfalls, die bei der Entscheidung des Beklagten hätten berücksichtigt werden müssen, erst durch die Amtsermittlung des Gerichts zu Tage, bleibt die Ermessensausübung des Beklagten ermessensfehlerfrei.

 

Nachgehend

BSG (Urteil vom 24.06.2020; Aktenzeichen B 4 AS 12/20 R)

 

Tenor

Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 20. Juni 2017 aufgehoben und die Klage abgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Die Klägerin wendet sich gegen einen Bescheid des Beklagten, mit dem dieser sie aufgefordert hat, eine vorzeitige Altersrente zu beantragen.

Die 1953 geborene Klägerin, die mit ihrem Regelaltersrente beziehenden Ehemann in einer Mietwohnung lebt, erhielt bis zum Bezug ihrer eigenen Regelaltersrente (Bescheid der Deutschen Rentenversicherung Rheinland - im Folgenden: DRV - vom 2. Oktober 2018 für die Zeit ab 1. September 2018 in Höhe eines monatlichen Zahlbetrages von 873,46 Euro) vom Beklagten Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II), so auch für den Zeitraum Februar bis Juli 2016 (in Höhe zwischen 448,69 Euro und 622,11 Euro laut endgültigem Bescheid vom 25. Juli 2016). Die Klägerin und ihr Ehemann hatten für die Zeit ab 7. März 2016 ein Pflegekind (geboren 17. Juni 2015) in befristeter Vollzeitpflege aufgenommen und erhielten hierfür Leistungen nach dem Achten Buch Sozialgesetzbuch - SGB VIII - (monatliches Pflegegeld für die Zeit vom 7. März 2016 bis 16. März 2017: 927,97 Euro laut Bescheid des Bezirksamts Treptow Köpenick von Berlin, Jugendamt vom 25. April 2016).

Auf Anforderung des Beklagten reichte die Klägerin am 26. Januar 2016 eine Renteninformation der DRV vom 5. September 2014 ein, wonach ihre - am 1. September 2018 beginnende - Regelaltersrente voraussichtlich 864,56 Euro betragen würde; die bislang erreichte Rentenanwartschaft entspräche einer monatlichen Rente von 805,16 Euro. Unter dem 5. April 2016 bestätigte die DRV, dass die Klägerin Altersrente mit Abschlägen frühestens ab 1. Februar 2016 erhalten könne.

Mit Schreiben vom 14. April 2016 forderte der Beklagte die Klägerin zur Beantragung einer „geminderten Altersrente“ bis spätestens zum 2. Mai 2016 auf. Daraufhin wandte sich die Klägerin an die DRV und teilte mit, dass der Beklagte sie angewiesen habe, dass sie in Rente gehen müsse und dies beantragen solle, was sie hiermit tue. Mit Schreiben an die DRV vom 19. Mai 2016 erklärte sie, dass sie mit ihrem vorangegangenen Schreiben vom 19. April 2016 keine Rente habe beantragen, sondern lediglich habe wissen wollen, wie hoch die Rente mit Abschlägen ausfallen würde.

Ebenfalls mit Schreiben vom 19. Mai 2016 erhob die Klägerin Widerspruch gegen die Aufforderung des Beklagten, da sie nicht vorzeitig in Rente gehen wolle.

Daraufhin stellte der Beklagte mit Schreiben vom 23. Mai 2016 bei der DRV einen Antrag auf vorzeitige Altersrente für die Klägerin gemäß § 5 Abs. 3 Satz 1 SGB II, meldete einen Erstattungsanspruch an und wies mit Widerspruchsbescheid vom 20. Juni 2016 den Widerspruch der Klägerin zurück: Weder sei die Inanspruchnahme einer vorzeitigen Altersrente unbillig im Sinne der Unbilligkeitsverordnung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales vom 14. April 2008 (UnbilligkeitsV) noch ergebe eine Abwägung der Interessen der Klägerin mit denen der Allgemeinheit im Hinblick auf das Gebot der wirtschaftlichen und sparsamen Verwendung öffentlicher Mittel, dass von der Aufforderung zur Rentenantragstellung bzw. einer Antragstellung durch den Beklagten selbst abgesehen werden könne. Ein atypischer Fall, in dem vom gesetzlichen Regelfall der Aufforderung zur Rentenantragstellung zur Durchsetzung der Verpflichtung zur Inanspruchnahme vorrangiger Leistungen abzusehen sei, liege nicht vor. Soweit sich Umstände für solche Härten nicht aufdrängen würden, sei es am Leistungsberechtigten die Umstände seines Einzelfalls vorzubringen, die der Leistungsträger zu erwägen habe (Hinweis auf Bundessozialgericht - BSG -, Urteil vom 19. August 2015, B 14 AS 1/15 R). Es seien keine Umstände ersichtlich, die für einen atypischen Fall der Klägerin sprächen. Diese habe solche Umstände auch nicht vorgetragen.

Hiergegen hat die Klägerin am 18./19. Juli 2016 beim Sozialgericht Berlin (SG) Klage erhoben und zur Begründung vorgetragen, dass sie jedenfalls bis zum Erreichen der Regelaltersrente weiter als Pflegemutter tätig sein wolle. Ihre ohnehin schon niedrige Rente würde im Falle des Bezuges einer vorzeitigen Altersrente noch geringer ausfallen.

Durch Urteil des SG vom 20. Juni 2017 ist der Bescheid des Beklagten vom 14. April 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides...

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