Entscheidungsstichwort (Thema)

Sozialgerichtliches Verfahren. Berufungseinlegung. Auslegung von Prozesserklärungen. Ermittlung des wirklichen Willens. Rüge der "Untätigkeit" des Gerichts nicht ausreichend. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Verschulden. Erkundigungspflicht bei mangelnden Rechtskenntnissen

 

Leitsatz (amtlich)

Eine Berufungsschrift muss nicht die förmliche und ausdrückliche Erklärung enthalten, dass Berufung eingelegt wird. Der Beteiligte muss aber zum Ausdruck bringen, dass das erstinstanzliche Urteil bzw der erstinstanzliche Gerichtsbescheid im Rechtsmittelweg überprüft werden soll. Dies ist dann nicht der Fall, wenn der Kläger mit einem - nach Erlass und Zustellung eines Gerichtsbescheids - an das SG gerichteten Schreiben innerhalb der Berufungsfrist rügt, dass er lange (vorliegend 14 Monate) nichts mehr vom SG gehört habe.

 

Orientierungssatz

Ein Rechtsirrtum oder mangelnde Rechtskenntnis vermag grundsätzlich eine Fristversäumnis nicht zu entschuldigen. Auch dem juristisch nicht hinreichend vorgebildeten Beteiligten obliegt es, die erforderlichen Erkundigungen einzuholen, um Kenntnis von den Frist- und Formerfordernissen bei Klageerhebung oder bei der Einlegung eines Rechtsmittels zu erlangen. Unterlässt er dies, so handelt er nicht ohne Verschulden (vgl BSG vom 12.1.2017 - B 8 SO 68/16 B und vom 10.2.1993 - 1 BK 37/92).

 

Tenor

Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Reutlingen vom 26. November 2018 wird als unzulässig verworfen.

Der Kläger trägt auch die Kosten des Rechtsstreits in zweiter Instanz.

 

Tatbestand

Im Streit steht die Inanspruchnahme des Klägers wegen des Kostenersatzes als Erbe für die seinem verstorbenen Bruder K.-D. H. (H.) erbrachten Leistungen der Sozialhilfe nach dem Sozialgesetzbuch (SGB) Zwölftes Buch (XII) - Sozialhilfe - (SGB XII); vorrangig zu klären sind Fragen des Prozessrechts.

Der 1959 geborene H. litt unter einer Alkoholabhängigkeit und einer paranoiden Schizophrenie. Er erhielt Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung bis zum 31. März 2011 sowie der Eingliederungshilfe in Form des ambulant betreuten Wohnens im Wohnprojekt H. auf Zeit bis 31. August 2011. H. verstarb zwischen dem 6. Dezember 2011 und dem 21. Dezember 2011. Der Kläger wurde Alleinerbe seines Bruders.

Durch Bescheid vom 26. Februar 2014 forderte der Beklagte vom Kläger Kostenersatz nach § 102 SGB XII in Höhe von 95.065,39 €. Er bezifferte die in den letzten zehn Jahren vor dem Erbfall aufgewendeten Sozialhilfekosten auf 95.065,39 € und ging von einem Nachlasswert in Höhe von 101.416,96 € aus. Dagegen legte der Kläger mit Schreiben vom 25. März 2014 (Eingang beim Beklagten 27. März 2014) Widerspruch ein. Auf diesen Widerspruch hob der Beklagte den Bescheid vom 26. Februar 2014 teilweise auf und verringerte den geforderten Kostenersatzbetrag auf 68.899,21 €. Im Übrigen wies er den Widerspruch des Klägers mit Widerspruchsbescheid vom 24. November 2015 zurück. Er berücksichtigte nun einen Nachlasswert in Höhe von 71.083,21 €. Der Sozialhilfebedarf im Zeitraum vom 1. Januar 2002 bis zum 31. August 2011 habe sich auf 95.065, 39 € belaufen.

Dagegen hat der Kläger am 23. Dezember 2015 (Schreiben vom 21. Dezember 2015) Klage zum Sozialgericht Reutlingen (SG) erhoben (S 5 SO 3247/15).

Das SG hat mit den Beteiligten am 22. August 2017 eine mündliche Verhandlung durchgeführt, in der die Beteiligten einen Vergleich geschlossen haben. Der Beklagte hat von dem in dem Vergleich vorbehaltenen Widerrufsrecht Gebrauch gemacht und mit Schreiben vom 21. September 2017 den gerichtlichen Vergleich vom 22. August 2017 widerrufen. Mit Verfügung vom 4. Oktober 2017 hat das SG auf die Absicht, den Rechtsstreit nach § 105 Abs. 1 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ohne mündliche Verhandlung und ohne Mitwirkung ehrenamtlicher Richter durch Gerichtsbescheid zu entscheiden, hingewiesen und den Beteiligten Gelegenheit zur Stellungnahme bis zum 25. Oktober 2017 gegeben. Mit Schreiben vom 7. Januar 2018 hat der Kläger u.a. darauf hingewiesen, dass er in der Sache drei Monate nichts gehört habe, und nochmals seinen Standpunkt dargelegt.

Das SG hat durch Gerichtsbescheid vom 26. November 2018 die Klage abgewiesen. Der Gerichtsbescheid ist dem Kläger ausweislich der Zustellungsurkunde vom 28. November 2018 am gleichen Tag durch Einlegung in den zu der Wohnung gehörenden Briefkasten zugestellt worden. Mit Schreiben vom 18. Dezember 2018 (Eingang beim SG am 19. Dezember 2018) betreffend “Wiederspruch zum Kostenersatzbescheid des Landratamt .T. Az. S 5 SO 3247/15„ hat der Kläger u.a. Folgendes ausgeführt: “nachdem ich jetzt 14 Monate nichts mehr von Ihnen gehört habe, gehe ich davon aus, dass das LA T. mal wieder keine Antwort auf mein letztes Schreiben gegeben hat, wie immer.... Ich möchte hiermit nochmal den für mich neuesten Stand seit dem Termin bei Ihnen in R. klären. Mein Bruder hat eine Rente in Höhe von ca. 400 € erhalten, gleichzeitig hat er vom Sozialamt 284 € erhalten, so die Aussage...

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