2.1 Entscheidungsprimat des Jugendamtes nach Abs. 1

2.1.1 Voraussetzungen nach Satz 1

 

Rz. 4

§ 36a Abs. 1 Satz 1 ordnet an, dass der Jugendhilfeträger die Kosten der Hilfe grundsätzlich nur dann trägt, wenn sie auf der Grundlage seiner Entscheidung nach Maßgabe des Hilfeplans unter Beachtung des Wunsch- und Wahlrechts erbracht wird; die Regelung betont das Prinzip des Entscheidungsprimats des Jugendamtes (vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss v. 10.5.2021, 12 A 4092/19 Rz. 10; instruktiv VG Stuttgart, Urteil v. 26.7.2011, 7 K 4112/09 Rz. 78; vgl. zum Begriff stellv. für andere: Wiesner, § 36a SGB VIII, Rz. 13; v. Koppenfels-Spies, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VIII, 3. Aufl. 2022, § 36a Rz. 10) und schreibt den Grundsatz der Unzulässigkeit der Selbstbeschaffung fest (Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Zweite Beschlussempfehlung v. 1.6.2005 zur BT-Drs. 15/5616). Die Selbstbeschaffung als Ausnahme kommt grundsätzlich nur unter den engen Voraussetzungen des § 36a Abs. 2 und 3 in Betracht. Zu diesem Zweck stellt Abs. 1 Satz 1 die Voraussetzungen auf, unter denen der Träger der Jugendhilfe die Kosten für eine Hilfe zu erbringen hat. Im Einzelnen hat der Gesetzgeber die Voraussetzungen wie folgt konkretisiert:

Der Gesetzgeber knüpft insoweit an die bestehende Rechtsprechung an (vgl. VG Gelsenkirchen, Beschluss v. 14.7.2000, 19 K 5288/98; vgl. auch die Komm. zu § 36). Danach muss der Behörde zumindest die Möglichkeit eröffnet worden sein, den gesetzlich in §§ 36 ff. verankerten Kooperationsprozess in Gang zu setzen, bevor ein Anspruch gegen einen Träger der Kinder- und Jugendhilfe auf rückwirkende Übernahme der Kosten einer selbst beschafften Jugendhilfemaßnahme entstehen. § 36 a Abs. 1 Satz 1 verstärkt diese von der Rechtsprechung aufgestellte Voraussetzung dahingehend, dass der Hilfeplan erstellt werden muss; die Initiierung des Hilfeplanverfahrens reicht nicht aus. Die Erstellung des Hilfeplans stellt sicher, dass der Träger der öffentlichen Hilfe die Entscheidungskompetenz wahrnehmen kann und nicht nur bloße Zahlstelle ist (zum Sinn der Vorschrift vgl. auch unter Rz. 2).

2.1.2 Entscheidungen des Familiengerichts und des Jugendrichters nach Satz 1 HS 2

 

Rz. 5

Nach Abs. 1 Satz 1 HS 2 gilt der Entscheidungsprimat des Jugendamtes auch in den Fällen, in denen Eltern durch das Familiengericht oder Jugendliche und junge Volljährige durch den Jugendrichter zur Inanspruchnahme von Hilfen verpflichtet werden (zum Verhältnis zur Entscheidung des Familiengerichts i. S. v. § 36a Abs. 1 Satz 1 HS 2 vgl. ganz allgemein auch: Münder, § 36a SGB VIII, Rz. 1; v. Koppenfels-Spies, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VIII, 3. Aufl. 2022, § 36a Rz. 18 ff.). Mit dieser Regelung verfestigt der Gesetzgeber das Entscheidungsprimat des Jugendamtes auch gegenüber gerichtlichen Anordnungen und stärkt somit die Position des Jugendamtes zusätzlich.

2.1.3 Kosten nach Satz 2

 

Rz. 6

Die Vorschriften über die Heranziehung zu den Kosten der Hilfe i. S. d. §§ 91 ff. bleiben nach Satz 2 ausdrücklich unberührt.

2.1.4 Einzelfälle

 

Rz. 7

Die Kosten von niedrigschwelligen ambulanten Maßnahmen nach dem JGG und insbesondere des Täter-Opfer-Ausgleichs werden auch unter Berücksichtigung des § 36a Abs. 1 durch den Jugendhilfeträger finanziert (so auch: Meier, Der Täter-Opfer-Ausgleich vor dem Aus?, ZJJ 2006 S. 261; a. A. Münder, § 36a SGB VIII, Rz. 31; zum Verhältnis zu Entscheidungen des Jugendgerichts i. S. v. § 36a Abs. 1 Satz 1 HS 2 vgl. ganz allgemein auch: Münder, § 36a SGB VIII, Rz. 22 ff.).

2.2 Ambulante Hilfen und Vereinbarungen nach Abs. 2

2.2.1 Niederschwellige Angebote – Erziehungsberatung u. a. nach Satz 1

 

Rz. 8

§ 36a Abs. 2 Satz 1 regelt, dass abweichend von Abs. 1 der Träger der öffentlichen Jugendhilfe die niedrigschwellige unmittelbare Inanspruchnahme von ambulanten Hilfen zulassen soll und trifft damit Regelungen für die sog. gesteuerte Selbstbeschaffung (zum Begriff vgl. Kunkel, Gesteuerte Selbstbeschaffung nach § 36a Abs. 2 SGB VIII, ZKJ 2007 S. 241). Diese stellt eine Ausnahme vom Entscheidungsprimat des Jugendamts dar und verpflichtet den Träger der öffentlichen Jugendhilfe, die niedrigschwellige unmittelbare Inanspruchnahme von ambulanten Hilfen auch ohne Erfüllung der Voraussetzungen des Abs. 1 zuzulassen. Die Vorschrift ist zweistufig aufgebaut. Auf einer ersten Endstufe entscheidet der Träger der öffentlichen Jugendhilfe i. S. v. § 36a Abs. 2 Satz 1 über die Zulassung, auf einer zweiten Stufe schließt der Träger der öffentlichen Jugendhilfe i. S. v. § 36a Abs. 2 Satz 2 entsprechende Vereinbarungen mit den Leistungserbringern. Von der Rechtsfolge her hat der Gesetzgeber mit der Einführung einer Sollvorschrift auf der ersten Stufe praktisch die Pflicht zur Zulassung für den Träger der öffentlichen Jugendhilfe geschaffen. Hiervon ist nur bei Vorliegen von atypischen Umständen im Einzelfall Abstand zu nehmen; eine schlechte Haushaltslage stellt dabei keinen atypischen, sondern einen typischen Umstand dar (Kunkel, Gesteuerte Selbstbeschaffung nach § 36a Abs. 2 SGB VIII, ZKJ 2007 S. 241). Abs. 2 Satz 1 regelt die zuzulassenden Hilfen dabei in Form von einem Regelbeispiel und nennt ausdrücklich die Erziehungsberatu...

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