2.2.1 Abgrenzung: Gegenvorstellung/Anhörungsrüge

 

Rz. 6

Infolge der Schaffung des Rechtsinstituts der Anhörungsrüge ist eine außerordentliche Beschwerde, sofern sie zuvor überhaupt als statthaft angesehen wurde, nicht mehr gegeben (s. oben Rz. 2). Höchst umstritten ist allerdings (hierzu E. Schneider, MDR 2006, S. 969, 972 "heilloses Durcheinander"), ob und inwieweit der außergerichtliche Rechtsbehelf der Gegenvorstellung statthaft bleibt. Aus den Erwägungen des Plenums des BVerfG (Beschluss v. 30.4.2003, 1 PBvU 1/02, NJW 2003 S. 1924) lässt sich nicht herleiten, dass eine Gegenvorstellung gegen gerichtliche Entscheidungen von Verfassungs wegen unzulässig ist. Das BVerfG macht zwar seit dieser Entscheidung die Zulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde nicht länger von der vorherigen Einlegung außerordentlicher Rechtsbehelfe abhängig, die die Rechtsprechung teilweise außerhalb des geschriebenen Rechts geschaffen hatte. Obgleich auch die Gegenvorstellung zu den damit angesprochenen "Rechtsbehelfen" zählt (vgl. BVerfG, a. a. O.), ergibt sich hieraus jedoch nicht, dass eine Gegenvorstellung aus verfassungsrechtlichen Gründen unstatthaft ist. Der Plenarbeschluss nimmt zu außerordentlichen Rechtsbehelfen lediglich unter den Gesichtspunkten der Erschöpfung des Rechtswegs (§ 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG) sowie des Subsidiaritätsgrundsatzes Stellung. Insoweit wird darauf verwiesen, dass mangels einer zuverlässigen gesetzlichen Regelung die rechtsstaatlichen Anforderungen an die Rechtsmittelklarheit nicht erfüllt sind. Die hieraus folgenden rechtsstaatlichen Defizite außerordentlicher Rechtsbehelfe schließen es aus, ihre vorherige erfolglose Einlegung zur Voraussetzung für die Zulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde zu machen (vgl. BVerfG, Beschluss v. 25.11.2008, 1 BvR 848/07, BVerfGE 122, 190).

 

Rz. 7

Ausgehend hiervon werden im Wesentlichen folgende Positionen vertreten (zum Meinungsstand auch BVerfG, Beschluss v. 25.11.2008, 1 BvR 848/07, BVerfGE 122, 190, 202):

  1. Die Gegenvorstellung ist nicht (mehr) statthaft (VerfGH Sachsen, Beschluss v. 3.11.2011, Vf. 38-IV-11, juris; Beschluss v. 29.9.2011, Vf. 94-IV-10, juris; BVerwG, Beschluss v. 23.6.2011, 8 C 14/10, 8 C 14/10, juris; Beschluss v. 11.1.2007, 8 KSt 17/06, juris; BFH, Beschluss v. 26.9.2007, V S 10/07, BFHE 219, 27; BayVGH, Beschluss v. 19.1.2006, 4 CE 05.690, juris; OVG Lüneburg, Beschluss v. 3.5.2005, 11 ME 131/05, NJW 2005 S. 2171; OVG Berlin, Beschluss v. 3.2.2005, 2 RB 1.05, 2 B 14.04, NVwZ 2005, 470; VGH Baden-Württemberg, Beschluss v. 2.2.2005, 3 S 83/05, NJW 2005 S. 920; Zeihe, SGG, § 172 Rn. 4d; Voßkuhle, NJW 2003 S. 2193, 2198).
  2. Die Gegenvorstellung ist nicht (mehr) statthaft, indessen ist § 178a trotz des eng gefassten Wortlauts jedenfalls auf die Rüge der Verletzung anderer Verfahrensgrundrechte analog anzuwenden (vgl. Meyer-Ladewig, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, 8. Aufl. 2005, § 178a Rn. 12; Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, Oktober 2008, § 152a Rn. 9 und 36; Müller, NJW 2002 S. 2743, 2747; dagegen Voßkuhle, NJW 2003 S. 2193, 2199).
  3. Im Anwendungsbereich der Anhörungsrüge ist die Gegenvorstellung als außerordentlicher Rechtsbehelf ausgeschlossen (so zu § 152a VwGO: OVG Sachsen, Beschluss v. 20.12.2011, 5 B 97/11, juris; Redeker/v. Oertzen, VwGO, 15. Aufl., § 152a Rn. 19; zu § 321a ZPO; Zöller/Vollkommer, ZPO, 28. Aufl., 2010, § 321a Rn. 4; Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, 70. Aufl., 2012, § 321a Rn. 62).
  4. Gegenvorstellungen gegen Beschlüsse wegen Verletzung anderer Verfahrensgrundrechte oder das Willkürverbot sind statthaft (BSG, Beschluss v. 28.7.2005, B 13 RJ 178/05 B, SozR 4-1500 § 178a Nr. 3; Beschluss v. 28.9.2006, B 3 P 1/06 C, SozR 4-1500 § 178a Nr. 5; BAG, Beschluss v. 3.8.2011, 3 AZB 8/11, NJW 2011 S. 3532; LSG NRW, Beschluss v. 24.10.2011, L 7 SF 325/11 G, juris; Beschluss v. 11.3.2011, L 19 AS 308/11 B RG, juris; LSG Saarland, Beschluss v. 29.6.2011, L 2 U 99/05, juris; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss v. 10.12.2009, L 27 P 41/09 B RG, juris), insbesondere in Fällen groben prozessualen Unrechts (BSG, Beschluss v. 19.1.2010, B 11 AL 13/09 C, SozR 4-1500 § 60 Nr. 7; LSG NRW, Beschluss v. 22.8.2011, L 19 AS 911/11 B ER, juris; LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss v. 13.4.2011, L 5 AS 136/11 B ER RG, juris).
  5. Eine Gegenvorstellung ist nur in Ausnahmefällen eröffnet, insbesondere bei schwerwiegenden Grundrechtsverstößen oder wenn die angegriffene Entscheidung unter keinem denkbaren Gesichtspunkt vertretbar erscheint und jeder gesetzlichen Grundlage entbehrt (vgl. BFH, Beschluss v. 11.3.2009, VI S 11/08, juris).
  6. Eine Gegenvorstellung kann nur gegen eine abänderbare Entscheidung des Gerichts erhoben werden (vgl. BVerfG, Beschluss v. 25.11.2008, 1 BvR 848/07, BVerfGE 122, 190; BFH, Beschluss v. 17.11.2011, X E 1/11, juris; Beschluss v. 6.12.2011, IX S 19/11, juris; Beschluss v. 1.7.2009, V S 10/07, BFHE 225, 310; OLG Köln, Beschluss v. 7.2.2011, 2 Wx 10/11, I-2 Wx 10/11, MDR 2011, 477; Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, vor § 567 Rn. 6).
  7. Mittels Gegenvorstellung kann auch die (fehlerha...

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