2.3.1 Vorbemerkung

 

Rz. 15

Nach § 153 Abs. 4 kann das LSG außer in den Fällen, in denen das SG durch Gerichtsbescheid (§ 105 Abs. 2 Satz 1) entschieden hat, die Berufung durch urteilsersetzenden Beschluss zurückweisen, wenn es sie einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält (vgl. auch § 522 Abs. 2 ZPO und § 130a VwGO). Diese durch Art. 8 Nr. 6d des Gesetzes zur Entlastung der Rechtspflege v. 11.1.1993 (BGBl. I S. 50) geschaffene Regelung gibt dem LSG die Möglichkeit, eindeutig aussichtslose Berufungen rasch und ohne unangemessenen Verfahrensaufwand zu bearbeiten, und trägt dementsprechend zur Entlastung der Landessozialgerichte bei (BT-Drs. 12/1217 S. 53 zu Nr. 7d). Das LSG ist allerdings gehindert, von dieser Vorschrift Gebrauch zu machen, wenn das SG durch Gerichtsbescheid entschieden hat. Insoweit wird Art. 6 EMRK der grundsätzliche Rechtsanspruch auf Durchführung mindestens einer mündlichen Verhandlung entnommen (vgl. auch BVerfG, Beschluss v. 30.4.2003, 1 PBvU 1/02, NJW 2003 S. 1924). Angesichts der Bedeutung der mündlichen Verhandlung für ein transparentes und nachvollziehbares Gerichtsverfahren (hierzu auch Redeker, NJW 2002 S. 192, 193; BVerwG, Beschluss v. 25.9.2003, 4 B 68/03, NVwZ 2004 S. 108) sollte § 153 Abs. 4 nur sehr zurückhaltend eingesetzt werden (vgl. BSG, Urteil v. 8.11.2005, B 1 KR 76/05 B, SozR 4-1500 § 158 Nr. 2). Unter Beachtung des nach Art. 6 Abs. 1 EMRK anerkannten Rechts auf (mindestens) eine mündliche Verhandlung ist die Möglichkeit, nach § 153 Abs. 4 ohne mündliche Verhandlung zu entscheiden, eng und in einer für die Beteiligten möglichst schonenden Weise auszulegen (BSG, Beschluss v. 6.4.2011, B 4 AS 188/10 B).

 

Rz. 16

Die mündliche Verhandlung ist das "Kernstück" des gerichtlichen Verfahrens (hierzu BSG, Beschluss v. 6.4.2011, B 4 AS 188/10 B; BSG, Beschluss v. 5.8.2004, B 13 RJ 206/03 B; Beschluss v. 31.3.2004, B 4 RA 126/03 B, SozR 4-1500 § 112 Nr. 2; Beschluss v. 23.10.2003, B 4 RA 37/03 B, SozR 4-1500 § 62 Nr. 1; BSG, Urteil v. 28.5.2003, B 3 KR 33/02 R; BSG, Urteil v. 7.11.2001, B 9 V 6/01 R). Verfassungsrechtlich gilt: Das BVerfG beanstandet die Anwendung solcher verfahrensrechtlicher Bestimmungen nur, wenn sie schlechterdings nicht vertretbar sind, sich damit als objektiv willkürlich erweisen und insoweit einer Partei der Zugang zu einer durch die Zivilprozessordnung grundsätzlich eröffneten Instanz in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert wird, was § 522 Abs. 2 Satz 1 ZPO betreffend verneint wurde (Beschluss v. 23.10.2007, 1 BvR 1300/06, NJW 2008 S. 504).

2.3.2 Voraussetzungen

2.3.2.1 Grundsatz

 

Rz. 17

§ 153 Abs. 4 erlaubt eine Zurückweisung der Berufung ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss auch für den Fall, dass einer der Beteiligten oder beide sich gegen dieses Verfahren wenden und eine mündliche Verhandlung verlangen, denn die Beteiligten müssen einer Entscheidung des Berufungsgerichts durch Beschluss nicht zustimmen (vgl. BSG, Beschluss v. 13.11.2001, B 9 SB 34/01 B; BSG, Urteil v. 17.9.1997, 6 RKa 97/96, SozR 3-1500 § 153 Nr. 4). Die Entscheidung des LSG, bei Vorliegen der im Gesetz genannten Voraussetzungen ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss zu entscheiden, steht in seinem pflichtgemäßen Ermessen.

 

Rz. 18

Die verfahrensrechtlichen Möglichkeiten des Berufungsgerichts zur Entscheidung durch Beschluss ohne mündliche Verhandlung sind in § 153 Abs. 4 dann eingeschränkt, wenn in erster Instanz – ohne oder sogar gegen den Willen der Beteiligten – ein Gerichtsbescheid ergangen ist oder das SG aus sonstigen Gründen verfahrensfehlerhaft ohne mündliche Verhandlung entschieden hat (BSG, Beschluss v. 6.4.2011, B 4 AS 188/10 B; Urteil v. 21.6.1994, 9 BV 38/94). Vom vereinfachten Verfahren ist dann abzusehen, wenn ein Verfahrensbeteiligter noch nicht die Möglichkeit hatte, sein Anliegen persönlich vorzutragen. Das wiederum gilt dann nicht, wenn das Sozialgericht nach § 124 Abs. 2 SGG mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entschieden hat (vgl. BSG, Beschluss v. 14.10.2005, B 11a AL 45/05 B; BVerwG, Urteil v. 22.1.1998, 2 C 4/97, NVwZ 1999 S. 404). Jedenfalls soll sichergestellt werden, dass eine mündliche Verhandlung - gleich in welcher Instanz – durchgeführt wird. Die Garantie einer öffentlichen Anhörung im Laufe eines mehrinstanzlichen Verfahrens in Art. 6 Abs. 1 EMRK schützt lediglich gegen Vorenthaltung durch das Gericht, nicht gegen den Verzicht auf mündliche Verhandlung durch die Beteiligten. Nicht anwendbar ist Art. 6 Abs. 1 EMRK auf Streitigkeiten der Kriegsopferversorgung und nach dem SchwbG (BSG, Urteil v. 21.6.1994, 9 BV 38/94). Nach der ausdrücklichen Regelung des § 142 Abs. 1 SGG gilt § 136 SGG ausschließlich für Beschlüsse, die nach mündlicher Verhandlung ergehen, also nicht für solche nach § 153 Abs. 4 (BSG, Urteil v. 30.10.1997, 13 RJ 31/97, SozR 3-1500 § 142 Nr. 1; Urteil v. 11.3.1998, B 9 SB 6/97 R; Beschluss v. 8.7.1998, B 11 AL 89/98 B). Ungeachtet dessen müssen die Beschlussgründe erkennen lassen, welche Über...

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