Entscheidungsstichwort (Thema)

Anspruch des schwerstbehinderten Kindes auf Versorgung mit einem Therapie-Tandem durch die Krankenkasse

 

Orientierungssatz

1. Ein u. a. an einer spastischen unilateralen infantilen Cerebralparese leidendes Kind hat nach § 33 Abs. 1 SGB 5 Anspruch auf Versorgung mit einem Therapie-Tandem, wenn dieses erforderlich ist, um dessen allgemeine Grundbedürfnisse des täglichen Lebens nach Erschließung des Nahbereichs der Wohnung und nach entwicklungsbedingt notwendiger Integration im Kreis Gleichaltriger und der Familie zu befriedigen.

2. Maßgebend für den von der Krankenversicherung zu gewährleistenden Behinderungsausgleich ist der Bewegungsradius, den ein nicht behinderter Mensch üblicherweise noch zu Fuß erreicht. Das Therapie-Tandem ist geeignet, dem behinderten Kind den Nahbereich durch eigene körperliche Bewegung zu erschließen.

3. Die Leistungspflicht der Krankenkasse ergibt sich aus dem weiteren Grundbedürfnis des behinderten Kindes zur entwicklungsbedingt notwendigen Integration im Kreis Gleichaltriger und der Familie.

4. Die Leistungspflicht der Krankenkasse beschränkt sich auf die notwendige Grundausstattung des Therapie-Tandems. Mehrkosten für eine kostspielige Schaltung und einen eingebauten Elektromotor sind vom Krankenversicherungsträger nicht zu übernehmen.

 

Tenor

Auf die Berufung des Klägers wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Darmstadt vom 5. Juni 2020 und der Bescheid der Beklagten vom 8. November 2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14. März 2018 aufgehoben und die Beklagte verurteilt, dem Kläger Kosten für das Therapie-Tandem Pino Steps der Firma E. in Höhe von 5.453,70 € zu erstatten.

Im Übrigen wird die Klage zurückgewiesen.

Die Beklagte hat 60 % der außergerichtlichen Kosten des Klägers in beiden Instanzen zu tragen.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten sich um die Kostenübernahme für ein Therapie-Tandem.

Der 2008 geborene Kläger kam zusammen mit seiner Zwillingsschwester als Frühgeborenes zur Welt. Er leidet an einer Schwerstbehinderung mit einem VP-Shunt sowie einer spastischen, unilateralen infantile Cerebralparese GMFCS Stufe 3 links. Bei dem Kläger sind ein Grad der Behinderung von 80 sowie die Merkzeichen B, aG und H festgestellt. Er besuchte die F-Schule in F-Stadt mit den Förderschwerpunkten „geistige Entwicklung“ und „körperlich motorische Entwicklung“. Neben der wöchentlichen Physiotherapie nimmt er außerschulisch am Schwimm- und Turnunterricht sowie am Therapie-Reiten teil.

Die Zwillingsschwester des Klägers ist mit einem Therapie-Dreirad der Firma E., Modell Trix ausgestattet. Die Beklagte hatte diese Hilfsmittelversorgung anerkannt, nachdem der Sachverständige Dr. H. in einem Rechtsstreit der Schwester und der Beklagten vor dem Sozialgericht Darmstadt (S 8 KR 202/18) in seinem Gutachten nach Hausbesuch vom 06.01.2020 die medizinische Notwendigkeit festgestellt hatte.

Der Kläger beantragte am 10.10.2017 die Übernahme der Kosten für ein nach seinen Bedürfnissen eingerichtetes Therapie-Tandem der Firma E., Modell Pino Steps unter Vorlage der ärztlichen Verordnung dafür vom 06.09.2017. Dem Antrag war der Arztbericht des Universitätsklinikums Würzburg vom 11.08.2017 beigefügt, der auf beständig weitere Fortschritte des Klägers seit der Shunt-Revision hinwies; der Kläger bewege den Rollstuhl, in dem er sitze, selbstständig fort; an der Hand könne er kurze Gehstrecken mit spastischer Cerebralparese bewältigen und nutze einen Posterior Walker. Dem ebenfalls dem Antrag beigefügten Probefahrtbericht des Fahrradgeschäfts vom 14.09.2017 war zu entnehmen, dass ein Therapie-Dreirad nicht in Betracht komme, da der Kläger die Gefahren im Straßenverkehr nicht einschätzen könne. Da der Rollstuhl auf dem Anhänger mitgeführt werden müsse, sei ein Hilfsantrieb erforderlich. Das Fahren auf dem Therapietandem stelle für den Kläger die Möglichkeit dar, seinem starken Bewegungsdrang nachzukommen. Neben dem Aufbautraining der Muskulatur, der Verbesserung des Gangbildes, der Motorik, des Gleichgewichtes, der Koordination und einer Stärkung des Allgemeinbefindens soll das Therapie-Tandem dem Kläger auch eine altersgemäße Mobilität ermöglichen. Der beigefügte Kostenvoranschlag betrug 11.998,70 €.

Die Beklagte beauftragte mit Schreiben vom 10.10.2017 den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) mit einer Begutachtung und teilte dem Kläger mit, dass eine Entscheidung bis zum 14.11.2017 erfolgen werde. In seinem Gutachten vom 25.10.2017 konnte der MDK die Notwendigkeit der Hilfsmittelversorgung nicht nachvollziehen. Bei dem Versicherten würde es sich um ein Kind handeln, das rollstuhlpflichtig und mit Orthesen versorgt sei. Laut Unterlagen seien koordinierte Bewegungen der Extremitäten nicht möglich; das Kind sei nicht in der Lage, das Fahrrad zu beherrschen, Gefahrensituationen zu erkennen und adäquat zu handeln. Diese Fähigkeiten müssten ohne Anwesenheit oder Hilfe von Erwachsenen abgerufen werden können. Andernfalls sei das G...

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