Entscheidungsstichwort (Thema)

Grundsicherung für Arbeitsuchende. Leistungsausschluss für Ausländer ohne Aufenthaltsrecht. Unionsbürgerfreizügigkeit. Aufenthaltsrecht als Familienangehöriger. Aufenthaltsrecht als nahestehende Person. Aufenthaltsrecht nach § 11 Abs 1 S 11 FreizügG/EU 2004 aF iVm § 28 Abs 1 S 1 Nr 3 AufenthG 2004. Familiennachzug zu Deutschen. Rechtmäßigkeit des Aufenthalts bis zur Bestandskraft der Feststellung des Nichtbestehens der Freizügigkeit

 

Leitsatz (amtlich)

1. Eine Antragstellerin kann als nichteheliche Partnerin eines Arbeitnehmers kein Aufenthaltsrecht als Familienangehörige aus § 3 FreizügG/EU (juris: FreizügG/EU 2004) ableiten, da der Familiennachzug in § 3 FreizügG/EU abschließend geregelt ist.

2. Ein Aufenthaltsrecht nach § 3a Abs 1 Nr 3 FreizügG/EU als nahestehende Person besteht nicht, weil die Rechtsposition der nahestehenden Personen erst infolge der individuell-konkreten Zulassungsentscheidung entsteht und ein solcher Titel bisher nicht erteilt wurde.

3. Es besteht kein Aufenthaltsrecht nach § 11 Abs 1 S 11 FreizügG/EU in Verbindung mit § 28 Abs 1 S 1 Nr 3 Aufenthaltsgesetz (juris: AufenthG 2004), wonach die Aufenthaltserlaubnis dem ausländischen Elternteil eines minderjährigen ledigen Deutschen zur Ausübung der Personensorge unter weiteren Voraussetzungen zu erteilen ist. Die Voraussetzungen dieser Vorschrift liegen schon deshalb nicht vor, da die minderjährigen Kinder der Antragstellerin nicht deutsche, sondern bulgarische Staatsangehörige sind.

4. Derzeit ist mangels Verlustfeststellung von einem rechtmäßigen Aufenthalt der Antragstellerin in Deutschland auszugehen. Da § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 Buchst a SGB II wie § 23 Abs 3 S 1 Nr 2 SGB XII nicht ausdrücklich an die Feststellung des Nichtbestehens der Freizügigkeit, sondern nur an das Nichtbestehen eines Aufenthaltsrechts anknüpft, lässt der Wortlaut der Regelung für sich genommen erst recht nicht darauf schließen, dass der Leistungsausschluss vor Bestandskraft der Feststellung des Nichtbestehens der Freizügigkeit gelten soll (vgl BVerfG vom 26.2.2020 - 1 BvL 1/20 = Asylmagazin 2020, 138 = juris RdNr 12 zu § 23 Abs 3 S 1 Nr 2 SGB XII).

 

Tenor

1. Die Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des Sozialgerichts Kassel vom 20. April 2021 wird zurückgewiesen.

2. Der Antragsgegner hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin zu tragen.

 

Gründe

I.

Der Antragsgegner und Beschwerdeführer (nachfolgend: Antragsgegner) wendet sich mit der Beschwerde gegen die vom Sozialgericht Kassel ausgesprochene Verpflichtung, der Antragstellerin vorläufig für die Zeit vom 10. März 2021 bis zum Eintritt der Rechtskraft der Hauptsacheentscheidung, längstens bis zum 9. September 2021, Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Sozialgesetzbuch - Zweites Buch - Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II) in gesetzlichem Umfang zu gewähren.

Die 1999 geborene Antragstellerin, welche vom 5. Juli bis 31. August 2017 einer Erwerbstätigkeit in Deutschland nachging, und ihr nichtehelicher Lebensgefährte C. sind bulgarische Staatsangehörige.

Sie sind zuletzt im Dezember 2018 erneut nach Deutschland eingereist. Sie haben zwei Kinder, die 2018 geborene D. und den 2020 geborenen E.

Die Antragstellerin hat keine Arbeit. Sie betreut, versorgt und pflegt die Kinder.

Ihr Lebensgefährte bezieht Einkommen aus Erwerbstätigkeit, bis November 2020 zunächst aus unselbstständiger Erwerbstätigkeit bei F. GmbH und seither aus selbstständiger Erwerbstätigkeit als Schrottsammler. Sein monatlicher Gewinn liegt aktuell zwischen 480,00 € und 490,00 €.

Seit Juni 2021 geht er einer Tätigkeit als abhängig beschäftigte Reinigungskraft nach.

Die Bedarfsgemeinschaft bezog daneben von dem Antragsgegner laufend Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II. Zuletzt bewilligte der Antragsgegner mit Bescheid vom 6. August 2020 der Bedarfsgemeinschaft vorläufig Leistungen nach dem SGB II für die Zeit vom 1. September 2020 bis 28. Februar 2021 (Bl. 882 VA).

Am 16. Januar 2021 beantragte die Bedarfsgemeinschaft bei dem Antragsgegner die Weiterbewilligung von Leistungen nach dem SGB II.

Mit Bescheid vom 26. Januar 2021 bewilligte der Antragsgegner dem Lebensgefährten und den Kindern erneut vorläufig Leistungen nach dem SGB II für die Zeit vom 1. März 2021 bis 31. August 2021. Im Übrigen wurde der Antrag für die Antragstellerin mit der Begründung abgelehnt, die Antragstellerin sei von Leistungen gemäß § 7 Abs. 1 S. 2 SGB II ausgenommen (Bl. 966 ff VA).

Am 16. Februar 2021 legte die Prozessbevollmächtigte für die Antragstellerin Widerspruch ein. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass die Antragstellerin und ihr Lebensgefährte eine eheähnliche Lebensgemeinschaft führten und zwei Kinder hätten. Die Antragstellerin gehöre nicht zu dem Personenkreis, der von Leistungen nach dem SGB II ausgenommen sei gemäß § 7 Abs. 1 S. 2 SGB II. Dem berufstätigen Vater sei es nicht zumutbar, seine zwei Jahre und elf Monate alten Kinder zu betreuen. Andere Betreuungspersonen stünden ...

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