Entscheidungsstichwort (Thema)

Grundsicherung für Arbeitsuchende. Leistungsausschluss für Ausländer bei Aufenthalt zur Arbeitsuche oder fehlendem Aufenthaltsrecht. Unionsbürger. Rückausnahme. fünfjähriger gewöhnlicher Aufenthalt im Inland. Feststellung des Verlustes des Freizügigkeitsrechts durch die Ausländerbehörde. fehlende Bestandskraft sowie Bindungswirkung und sofortige Vollziehbarkeit der Verlustfeststellung

 

Leitsatz (amtlich)

Die Rückausnahme aus § 7 Abs 1 S 4 Halbs 2 SGB II, wonach ein Anspruch auf laufende Leistungen zum Lebensunterhalt der Grundsicherung für Arbeitsuchende trotz fünfjährigen gewöhnlichen Aufenthalts im Inland ausgeschlossen ist, wenn der Verlust des Rechts nach § 2 Abs 1 des Freizügigkeitsgesetzes/EU (juris: FreizügG/EU 2004) festgestellt wurde, kommt nicht zur Anwendung, wenn der entsprechende Bescheid weder bindend noch sofort vollziehbar ist.

 

Tenor

I. Auf die Beschwerde der Antragsteller wird der Beschluss des Sozialgerichts Darmstadt vom 30. März 2022, soweit er den Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes und die Kostenentscheidung betrifft, aufgehoben und

1. die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs der Antragsteller gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 23. Februar 2022 angeordnet und

2. die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, den Antragstellern vorläufig Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch in gesetzlicher Höhe für die Zeit vom 1. April 2022 bis zum 31. August 2022 zu gewähren.

II. Die Antragsgegnerin hat den Antragstellern die zur Rechtsverfolgung notwendigen Kosten zu erstatten. Im Übrigen haben die Beteiligten einander Kosten nicht zu erstatten.

Den Antragstellern wird Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren unter Beiordnung von Frau Rechtsanwältin C., B-Stadt, ohne Pflicht zur Ratenzahlung bewilligt.

 

Gründe

I.

Die Beteiligten streiten im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzes um existenzsichernde Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts, wobei namentlich streitig ist, wie sich die Feststellung des Verlustes des Rechts auf Einreise und Aufenthalt nach dem Gesetz über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern - Freizügigkeitsgesetz/EU - (FreizügG/EU) durch den beigeladenen Landkreis als Ausländerbehörde auf die Leistungsansprüche der Antragstellerin und des Antragstellers auswirkt.

Die 1979 geborene Antragstellerin zu 2. und ihr 2000 geborener Sohn, der Antragsteller zu 1., sind rumänische Staatsangehörige. Die Antragsteller leben seit mindestens 2014 (Antragstellerin zu 2.) beziehungsweise 2015 (Antragsteller zu 1.) in Deutschland und waren im Landkreis C-Stadt gemeldet. Die Antragstellerin zu 2. arbeitete zuletzt bis 30. April 2020 als Reinigungskraft.

Die Antragsteller erhielten - zunächst in Bedarfsgemeinschaft mit weiteren Angehörigen - seit 2016 Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) von der Antragsgegnerin. Zuletzt bewilligte diese den Antragstellern durch Bescheid vom 15. Oktober 2021 Leistungen für die Zeit vom 1. Oktober 2021 bis 31. März 2022, und zwar - unter Einschluss erheblicher Aufwendungen für Unterkunft und Heizung für die früher mit den weiteren Angehörigen, nunmehr nur noch zu zweit bewohnte Unterkunft - in Höhe von insgesamt monatlich 1.778,30 Euro für Oktober bis Dezember 2021 und 1.784,30 Euro für Januar bis März 2022. Wegen der Einzelheiten wird auf Bl. 191 ff. der elektronisch übersandten Leistungsakte der Antragsgegnerin, Aktenteil „bg2.pdf“ (im Folgenden: eLA), Bezug genommen.

Durch zwei Bescheide vom 16. Februar 2022 stellte der Beigeladene als Ausländerbehörde gegenüber der Antragstellerin einerseits und dem Antragsteller andererseits das Nichtbestehen des Rechts auf Einreise und Aufenthalt fest. Beide seien verpflichtet, die Bundesrepublik Deutschland zu verlassen. Für den Fall, dass der Ausreiseverpflichtung nicht binnen einer Frist von drei Monaten nach Bestandskraft der jeweiligen Verfügung entsprochen werde, drohte er die Abschiebung an. Auf eLA Bl. 222 ff. und Bl. 227 ff. wird Bezug genommen. Gegen diese Bescheide erhoben die Antragsteller Klage zum Verwaltungsgericht, über die noch nicht entschieden ist.

Nachdem der Beigeladene die Antragsgegnerin über die Verlustfeststellung informiert hatte, hob diese mit einem an die Antragstellerin zu 2. gerichteten Bescheid vom 23. Februar 2022 den Bewilligungsbescheid vom 15. Oktober 2021 für beide Antragsteller mit Wirkung ab 1. März 2022 auf. Gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 Bst. a SGB II seien Ausländerinnen und Ausländer, die kein Aufenthaltsrecht hätten, von Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch ausgenommen. Auf Grund der Verlustfeststellungsverfügung vom 16. Februar 2022 seien die Antragsteller daher nicht mehr leistungsberechtigt. Wegen der Einzelheiten wird auf eLA Bl. 210 f. verwiesen.

Bereits zuvor hatten die Antragsteller am 21. Februar 2022 einen Weiterbewilligungsantrag für die Zeit ab 1. April 2022 gestellt. Diesen Antra...

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