Leitsatz (amtlich)

Bei der Anwendung des FRG § 5 Abs 2 iVm FRG § 5 Abs 1 Nr 1 (Unfall eines Kreisrats in Mecklenburg) sind die für das Unfallgeschehen maßgeblichen Verhältnisse des Herkunftslandes selbst dann zugrunde zu legen, wenn sie von denen im Geltungsbereich des FRG abweichen.

 

Normenkette

RVO § 548 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1963-04-30, § 542 Abs. 1 Fassung: 1942-03-09; FRG § 5 Abs. 2 Fassung: 1960-02-25, Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1960-02-25; RVO § 539 Abs. 1 Nr. 13 Fassung: 1963-04-30, § 537 Nr. 10 Fassung: 1942-03-09, Nr. 1 Fassung: 1942-03-09

 

Tenor

Das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 18. Mai 1966 wird aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Gründe

I

Der Kläger war vor seiner Flucht in die Bundesrepublik Deutschland im Dezember 1960 hauptamtlicher Bürgermeister (im Anstellungsverhältnis) der Stadt B sowie Kreistagsabgeordneter und (ehrenamtlicher) Kreisrat des Kreises P (Mecklenburg). Am 18. Dezember 1959 erlitt er auf der Fahrt von P nach B einen Verkehrsunfall, der zu einer Gehirnerschütterung, Verletzungen des Kehlkopfes, Prellungen und Rißwunden führte. Der Freie Deutsche Gewerkschaftsbund (FDGB), Bezirksvorstand Neubrandenburg, Verwaltung der Sozialversicherung, gewährte ihm wegen Zustandes nach Kehlkopffraktur eine Unfallrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit um 50 %. Nachdem der Kläger die sowjetische Besatzungszone (SBZ) verlassen und seinen gewöhnlichen Aufenthalt in N genommen hatte, beantragte er mit Schreiben vom 27. Januar 1961 die Gewährung einer Rente.

Die Beklagte lehnte durch Bescheid vom 16. April 1963 eine Unfallentschädigung ab, weil der Kläger den Unfall als hauptamtlicher Bürgermeister erlitten habe und er in dieser Eigenschaft im Bundesgebiet Beamter und somit versicherungsfrei gewesen wäre.

Das Sozialgericht Augsburg hat aus denselben Erwägungen die Klage abgewiesen (Urteil vom 27. Januar 1964).

In der Berufungsinstanz hat der Kläger vorgetragen, er habe die Fahrt, auf der er verunglückt sei, in seiner Eigenschaft als ehrenamtlicher Kreisrat und Kreistagsabgeordneter unternommen. Auf Grund eines ihm auf einer Sitzung des Rates des Kreises P erteilten Auftrages habe er die Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft (LPG) G wegen des Abschlusses der Zuckerrübenrodung überprüft.

Das Bayerische Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung zurückgewiesen (Urteil vom 18. Mai 1966). Zur Begründung hat es u.a. ausgeführt, daß auch unter diesen als erwiesen angesehenen Umständen ein Unfallversicherungsschutz im Bundesgebiet nicht bestanden hätte. Ehrenamtliche Tätigkeiten seien vor dem Inkrafttreten des Gesetzes zur Neureglung des Rechts der gesetzlichen Unfallversicherung (Unfallversicherungs-Neureglungsgesetzes - UVNG -) vom 30. April 1963 (BGBl I 241) nicht unfallgeschützt gewesen. § 539 Abs. 1 Nr. 13 der Reichsversicherungsordnung (RVO) gelte nicht für Arbeitsunfälle, die sich vor dem Inkrafttreten des UVNG ereignet hätten. Die Voraussetzungen des § 537 Nr. 10 RVO aF träfen nicht zu, weil die vom Kläger in seiner Eigenschaft als Kreisrat und Kreistagsabgeordneter verrichtete Aufsichts- und Überprüfungstätigkeit ihrer Art nach nicht im Rahmen eines Arbeits- oder Dienstverhältnisses ausgeführt werden könne.

Das Berufungsgericht hat die Revision zugelassen.

Der Kläger hat dieses Rechtsmittel durch seine Prozeßbevollmächtigten eingelegt. Er erblickt einen Verstoß gegen die Aufklärungspflicht (§ 103 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG) darin, daß die Vorinstanz die Überprüfungs- und Aufsichtstätigkeit als typisch ehrenamtlich angesehen habe. Weitere Ermittlungen hätten zur Annahme des Versicherungsschutzes nach § 537 Nr. 10 RVO aF geführt; das Gericht wäre zu der Feststellung gekommen, daß die Überprüfung der LPGen grundsätzlich der Kreisverwaltung obliege und in der Regel durch hauptamtliche Beschäftigte erfolge. Ehrenamtlichen Kreisräten oder den Kreistagsabgeordneten würden solche Aufgaben nur ausnahmsweise übertragen.

Der Kläger beantragt,

die Urteile der Vorinstanzen und den Bescheid der Beklagten vom 16. April 1963 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm vom 1. Januar 1961 an für die Folgen des Unfalls vom 18. Dezember 1959 die gesetzlichen Leistungen zu gewähren,

hilfsweise,

den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das vorinstanzliche Urteil für zutreffend.

II

Die durch Zulassung statthafte (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG) Revision hat insoweit Erfolg, als das Urteil der Vorinstanz aufzuheben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen war.

Die Entscheidung über den geltend gemachten Anspruch hängt davon ab, ob die Voraussetzungen für die Gewährung einer Entschädigung nach § 5 des Fremdrentengesetzes (FRG) vorliegen. Dies ist - entgegen der Auffassung der Vorinstanzen und der Beklagten - zu bejahen.

§ 5 FRG verlangt, daß der Verletzte zur Zeit des Unfalls nach dem Recht des Herkunftslandes versichert war (§ 5 Abs. 1 Nr. 1 FRG) und nach dem im Geltungsbereich des Gesetzes, im Falle des Klägers nach dem im Bundesgebiet geltenden Recht versichert gewesen wäre (§ 5 Abs. 2 in Verbindung mit § 5 Abs. 1 Nr. 1, § 7 FRG). Soweit es auf die in der SBZ geltenden Vorschriften ankommt, kann dahingestellt bleiben, ob es sich hierbei um revisibles Recht handelt. Das LSG hat - nach seinem Rechtsstandpunkt zutreffend - die Frage des Versicherungsschutzes im Herkunftsland nicht geprüft und somit diese Vorschriften nicht angewendet. Der erkennende Senat ist deshalb durch § 162 Abs. 2 SGG nicht gehindert, dieses Recht seiner Entscheidung zugrunde zu legen (BSG 7, 122, 125; 13, 206, 212; Breithaupt 1967, 199, 200).

Der Kläger war im Zeitpunkt des Unfalls bei einem deutschen Träger der gesetzlichen Unfallversicherung im Sinne des § 5 Abs. 1 Nr. 1 FRG versichert. Aufgrund des § 1 der Verordnung (VO) zur Ergänzung der VO über die Erweiterung des Versicherungsschutzes bei Unfällen vom 2. August 1956 (GBl. I 612) besteht Unfallversicherungsschutz für ehrenamtliche Tätigkeiten u.a. als Abgeordnete der örtlichen Volksvertretungen, wenn die Tätigkeit im direkten Auftrag der Volksvertretung ausgeübt wird. Der Kläger war als Kreistagsabgeordneter Mitglied der örtlichen Volksvertretung des Landkreises P (vgl. § 2 des Gesetzes über die örtlichen Organe der Staatsmacht vom 18. Januar 1957 - GBl. I 65). Er hatte den Auftrag zur Überprüfung der LPG Grimme, bei dessen Ausführung er den Unfall erlitt, vom Rat des Kreises, dem vollziehenden und verfügenden Organ des Kreistages (vgl. §§ 4, 32 Abs. 1 dieses Gesetzes), erhalten.

Der Unfallversicherungsschutz war aber nicht nur nach dem Recht des Herkunftslandes, sondern auch nach dem im Zeitpunkt des Unfalles im Bundesgebiet geltenden Recht, der RVO in der vor dem UVNG geltenden Fassung gegeben. Die Vorinstanz hat den Versicherungsschutz nach der RVO verneint, weil ehrenamtliche Tätigkeiten nach dem im Zeitpunkt des Unfalls im Bundesgebiet geltenden Recht nicht versichert gewesen seien. Indessen kann dahinstehen, ob vor dem Inkrafttreten des UVNG für Unfälle in Ausübung ehrenamtlicher Tätigkeit im allgemeinen Versicherungsschutz gegeben war. Der in dieser Frage bestehende und durch § 539 Abs. 1 Nr. 13 RVO idF des UVNG für den Bereich der unmittelbaren und mittelbaren Staatsverwaltung beendete Meinungsstreit (hierzu ausführlich Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Stand 15. Aug. 1969, Bd, II, S. 474 i ff braucht nicht entschieden zu werden, weil der Kläger bei seiner ehrenamtlichen Aufsichts- und Kontrolltätigkeit nach § 537 Nr. 10 i.V.m. Nr. 1 RVO aF versichert gewesen wäre. Nach der vom Bundessozialgericht (BSG) in ständiger Rechtsprechung vertretenen Auffassung besteht Versicherungsschutz nach diesen Vorschriften (jetzt 539 Abs. 2 i.V.m. Abs. 1 Nr. 1 RVO) für eine ernstliche, dem Unternehmen dienende Tätigkeit, die dem wirklichen oder mutmaßlichen Willen des Dienstherrn entspricht, einen inneren Zusammenhang mit dem Unternehmen herstellt und ihrer Art nach von Personen verrichtet werden kann, die zu dem Dienstherrn im Verhältnis persönlicher und wirtschaftlicher Abhängigkeit stehen (BSG 5, 168, 171 ff; 8, 170, 175; 14,1, 4; 16, 73, 75; 17, 73, 74, 211, 216; 18, 143, 145 f; 19, 117, 118; SozR RVO § 537 aF Nrn 16, 23, 25, 32).

Im vorliegenden Fall kommt es - da die übrigen Voraussetzungen unstreitig vorliegen - allein darauf an, ob die vom Kläger im Zeitpunkt des Unfalls ausgeübte Kontroll- und Aufsichtstätigkeit aufgrund eines Dienst- und Arbeitsverhältnisses verrichtet werden konnte (vgl. BSG 8, 170; 14, 1; 16, 73; 17, 73, 211; SozR RVO § 537 aF Nr. 32). Das LSG hat diese Frage - zu Unrecht - verneint, weil es nicht die für das Unfallgeschehen maßgeblichen Verhältnisse des Herkunftslandes zugrunde gelegt hat, sondern bei seiner Beurteilung von einem Vorgang ausgegangen ist, wie er sich unter den anderen Verhältnissen des Bundesgebietes gestaltet hätte. Diese Auffassung findet jedoch in dem das FRG beherrschenden Grundsatz der Eingliederung keine Stütze. Er besagt, daß auf das Unfallgeschehen, wie es sich im Herkunftsland ereignet hat, auch das im Bundesgebiet geltende Recht der gesetzlichen Unfallversicherung anzuwenden ist (vgl. Jantz/Zweng/Eicher, Das neue Fremdrenten- und Auslandsrentenrecht, 2. Aufl. Einf. S. XIV, S. 17, Anm. 2 zu § 5 FRG, S. 22 Anm. 8 zu § 5 FRG; Hoernigk/Jahn/Wickenhagen, Fremdrentengesetz, S. 101 Anm. 9 zu § 5 FRG, S. 105 Anm. 15 zu § 5 FRG - Stand Februar 1968 -; Merkle/Michel, Fremdrenten- und Auslandsrenten-Neuregelungsgesetz, S. 162 Anm. 1 zu § 5 FRG - Stand September 1968 -). Der Versicherungsschutz bestimmt sich also danach, ob der Verletzte einen Entschädigungsanspruch haben würde, wenn er bei den im Herkunftsland gegebenen Verhältnissen im Geltungsbereich der RVO verunglückt wäre (vgl. BSG 26, 40, 41 f). Die Fiktion des § 5 FRG, die Rechtslage sei auch so zu beurteilen, als hätte der Verletzte den Unfall im Geltungsbereich des Gesetzes erlitten, rechtfertigt nicht die von den Vorinstanzen und der Beklagten vertretene Auffassung, daß der sozialversicherungsrechtlichen Beurteilung die vergleichbaren Verhältnisse des Bundesgebiets zugrunde gelegt werden müßten.

Die Vorinstanzen hätten deshalb darauf abstellen müssen, ob die Kontroll- und Aufsichtstätigkeit, in deren Ausübung der Kläger den Unfall erlitten hat, nach den in der SBZ gegebenen Verhältnissen nicht nur von ehrenamtlich Tätigen verrichtet werden konnte. Die Zusammensetzung des Kreisrates, dem haupt- und ehrenamtliche Mitglieder angehören (vgl. § 29 Absätze 2 und 4 des Gesetzes über die örtlichen Organe der Staatsmacht) und die allen Mitgliedern gleichermaßen auferlegte persönliche Verantwortung (vgl. § 28 Abs. 3) für die Arbeit dieses Organs (vgl. § 28 Abs. 1 i.V.m. §§ 1, 4) machen deutlich, daß haupt- und ehrenamtliche Kräfte bei der Aufgabe zusammenwirken, die Produktion in der Landwirtschaft zu steigern, die Erfüllung der Erfassungs- und Aufkaufpläne für landwirtschaftliche Erzeugnisse zu sichern sowie die Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften zu fördern (§ 32 Abs. 1 i.V.m. § 6 Abs. 2 Buchst. g, i). Es besteht kein Anhalt dafür, daß der zur Erfüllung dieser Aufgabe dem Kläger am 18. Dezember 1959 erteilte Auftrag, die LPG zu überprüfen, den ehrenamtlichen Mitgliedern des Kreisrates vorbehalten war. Er hätte ebensogut von einer in der Verwaltung des Kreises hauptamtlich beschäftigten Person, somit aufgrund eines dem allgemeinen Arbeitsmarkt zuzurechnenden Dienstverhältnisses ausgeführt werden können. Nach § 35 des Gesetzes über die örtlichen Organe der Staatsmacht erfüllen die örtlichen Räte ihre Aufgaben u.a. durch die Tätigkeit ihrer Mitglieder, ohne daß es darauf ankommt, ob sie haupt- oder ehrenamtlich tätig sind.

Der somit für die Kontroll- und Aufsichtsmaßnahme nach § 537 Nr. 10 RVO aF gegebene Unfallversicherungsschutz wird nicht dadurch in Frage gestellt, daß der Kläger den Unfall nach Abschluß seiner Überprüfungstätigkeit auf dem Rückweg nach B erlitten hat. Auch wenn dieser Weg nicht nur der Rückkehr von der (versicherten) Fahrt nach G, sondern zugleich auch von der möglicherweise (unversicherten) Teilnahme an der Kreisratssitzung gedient hat, wäre der Kläger im Bundesgebiet nach den für eine sogenannte gemischte Tätigkeit geltenden Grundsätzen (BSG 3, 240, 245) unfallgeschützt gewesen.

Der Kläger hat somit im Zeitpunkt des Unfalls sowohl nach dem damals im Herkunftsland als auch nach dem s. Zt. im Bundesgebiet geltenden Recht unter Versicherungsschutz gestanden. Das LSG hat - von seinem gegenteiligen Rechtsstandpunkt aus zutreffend - nicht geprüft, ob die übrigen Anspruchsvoraussetzungen erfüllt sind.

Der Senat konnte somit in der Sache nicht entscheiden, weil tatsächliche Feststellungen des Berufungsgerichts zum Unfallschaden fehlen. Deshalb war die Sache unter Aufhebung des angefochtenen Urteils zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).

Die Entscheidung über die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens bleibt der Entscheidung des Berufungsgerichts vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2284892

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