Leitsatz (amtlich)

1. Ist ein Unfall im wesentlichen auf die Blindheit eines Beschädigten zurückzuführen, der die Sehkraft eines Auges kriegsbedingt und die des anderen Auges später nicht schädigungsbedingt verloren hat, so steht der Anerkennung der Unfallverletzungen des Beschädigten als mittelbare Schädigungsfolgen nicht entgegen, daß die Blindheit nicht als Schädigungsfolge anerkannt ist.

2. Das unvorsichtige Verhalten des Beschädigten im Straßenverkehr ist nur dann als die wesentliche Unfallursache anzusehen, wenn es mangels Anpassung an die eingeschränkten eigenen Fähigkeiten nach den Grundsätzen der selbstgeschaffenen Gefahr als in hohem Grade unvernünftig und unfallträchtig beurteilt werden muß.

 

Orientierungssatz

Es ist zwar grundsätzlich davon auszugehen, daß dem Beschädigten (insbesondere einem Blinden) eine Einschränkung der Bewegungsfreiheit im Interesse der Sicherheit etwaiger anderer Verkehrsteilnehmer zuzumuten ist. In Anbetracht der bei jeder Hilfe für Beschädigte im Vordergrund stehenden Rehabilitationsinteressen muß dem Behinderten jedoch zugebilligt werden, daß er bis an die Grenze seiner Fähigkeit geht, ohne fremde Hilfe auszukommen.

 

Normenkette

BVG § 1 Abs. 1 Fassung: 1950-12-20, § 30 Abs. 1, § 1 Abs. 3 S. 1 Fassung: 1950-12-20

 

Verfahrensgang

LSG Hamburg (Entscheidung vom 28.06.1978; Aktenzeichen IV KOBf 5/78)

SG Hamburg (Entscheidung vom 09.11.1977; Aktenzeichen 28 KO 30/77)

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 28. Juni 1978 aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Tatbestand

Der Kläger begehrt die Anerkennung unfallbedingter Gesundheitsstörungen als mittelbare Schädigungsfolgen.

Der Kläger hat durch Kriegseinwirkung die Sehkraft seines rechten und schädigungsunabhängig später die seines linken Auges verloren. Er erhält Beschädigtenversorgung nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 70 vH und Pflegezulage der Stufe III. Am 14. November 1974 um 23.10 Uhr wurde er durch ein Kraftfahrzeug angefahren und lebensgefährlich verletzt, als er auf dem Weg nach Hause ohne Begleitung eine Straßenkreuzung überqueren wollte. Zur Unfallzeit war die Straßenkreuzung ausreichend beleuchtet; die dort installierte Verkehrsampelanlage war aber ausgeschaltet.

Der Beklagte lehnte es ab, die bei dem Unfall erlittenen Gesundheitsstörungen als mittelbare Schädigungsfolgen anzuerkennen (Bescheid vom 11. Januar 1977). Klage und Berufung sind erfolglos geblieben (Urteile vom 9. November 1977 und vom 28. Juni 1978).

Das Landessozialgericht (LSG) hat einen Versorgungsanspruch verneint, weil die Verhaltensweise des Beschädigten als überwiegend ursächlich für den Eintritt des Unfalls anzusehen sei. Nehme ein Blinder am öffentlichen Verkehrsleben teil, müsse er sein Verkehrsverhalten nach seinen Schädigungsfolgen ausrichten und die sich daraus für ihn ergebenden Gefahren auf ein tragbares Maß beschränken. Davon könne keine Rede sein, wenn er zur Nachtzeit nur im Vertrauen auf sein Gehör eine nicht durch Verkehrsampeln gesicherte Straße überquere.

Der Kläger hat die gegen dieses Urteil von dem LSG zugelassene Revision eingelegt. Er rügt eine Verletzung des § 1 Abs. 1 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG).

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 28. Juni 1978, das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 9. November 1977 und den Bescheid der Beklagten vom 11. Januar 1977 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm wegen der Folgen des Unfalls vom 14. November 1974 Versorgung nach dem Bundesversorgungsgesetz zu gewähren;

hilfsweise,

die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision des Klägers zurückzuweisen.

Die Beteiligten sind damit einverstanden, daß der Senat ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheidet (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Klägers ist begründet. Das Urteil des LSG ist aufzuheben. Der Rechtsstreit ist zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Nach § 1 Abs 1 BVG erhält derjenige, der durch Wehrdiensteinflüsse eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen der Schädigung Versorgung. Die Entschädigung nach Versorgungsrecht umfaßt nicht nur die durch die Schädigung unmittelbar hervorgerufenen Gesundheitsstörungen, sondern auch die Gesundheitsstörungen, die ihrerseits durch schädigungsbedingte Gesundheitsstörungen hervorgerufen worden sind - mittelbare Schädigungsfolgen -. Nach der im Versorgungsrecht geltenden Ursachenlehre sind Gesundheitsstörungen schon dann als mittelbare Schädigungsfolgen anzuerkennen, wenn bei ihrem Zustandekommen eine schädigungsbedingte Gesundheitsstörung wesentlich mitgewirkt hat.

Das LSG ist zutreffend davon ausgegangen, daß die gesundheitlichen Folgen des Verkehrsunfalls vom 14. November 1974 dann als mittelbare Schädigungsfolgen anzuerkennen sind, wenn die Blindheit beim Zustandekommen dieses Unfalls wesentlich mitgewirkt hat. Dem steht nicht entgegen, daß die Blindheit nicht ihrerseits als - mittelbare - Schädigungsfolge anerkannt ist. Richtig ist zwar, daß grundsätzlich nur anerkannte Schädigungsfolgen als wesentliche Ursachen für weitere Schädigungsfolgen gelten können. Denn erst nach erfolgreichem Anerkennungsverfahren steht fest, daß eine Gesundheitsstörung Schädigungsfolge ist und ein von ihr ausgehender Ursachenbeitrag auf die kriegsbedingte Schädigung zurückgeführt und daher der Kriegsopferversorgung (KOV) zugerechnet werden kann. Diese Anerkennung scheitert aber, wenn die Gesundheitsstörung zwar auf die Schädigung als einer wesentlichen Mitursache zurückzuführen ist, aber aus besonderen Gründen - die unabhängig von der Ursachenlehre sind - von der KOV nicht erfaßt wird.

Daß die auf dem schädigungsbedingten Verlust der Sehkraft des einen Auges und auf dem späteren schädigungsunabhängigen Verlust der Sehkraft des anderen Auges beruhende Blindheit nicht als mittelbare Schädigungsfolge anerkannt werden konnte, hat seinen Grund allein darin, daß nach der traditionellen Auffassung von dem Aufgabenbereich der KOV sogenannte Nachschäden grundsätzlich nicht erfaßt werden (vgl zusammenfassende Darstellung dieser Auffassung in BSGE 41, 70). Der schädigungsbedingte Verlust der Sehkraft des einen Auges ist aber in seiner ursächlichen Tragweite für den Eintritt der Blindheit dem - schädigungsunabhängigen - Verlust des anderen Auges annähernd gleichwertig. Er ist im Sinne der Theorie der wesentlichen Bedingung als Ursache für die Blindheit zu beurteilen. Das wird auch von denjenigen eingeräumt, die an der vorgenannten traditionellen Auffassung festhalten (vgl BSG, aaO, 72). Die Blindheit, die durch das Zusammenwirken eines Kriegsschadens mit einem späteren Zivilschaden eintritt, ist somit zwar nicht als Grundlage für die Anerkennung einer höheren MdE im Sinne des § 30 Abs 1 BVG anzuerkennen; sie ist aber als unmittelbare Ursache für mittelbare Schäden geeignet. Dies steht im Einklang damit, daß die als Nachschaden eingetretene Blindheit, obwohl sie nicht als Schädigungsfolge anerkannt werden kann, immerhin als wesentliche Bedingung für die Hilflosigkeit und damit den Anspruch auf Pflegezulage (vgl BSGE 17, 114), für die Zuerkennung einer besonderen beruflichen Betroffenheit (vgl BSGE 36, 285) und für die Zuerkennung eines Berufsschadensausgleichs (vgl BSGE 37, 80) anerkannt worden ist.

Der Auffassung des LSG, der ursächliche Beitrag der Blindheit trete gegenüber dem eigenen unvorsichtigen Verhalten des Klägers in den Hintergrund, kann nach den bisherigen Feststellungen nicht zugestimmt werden. Wenn man - wie das LSG - davon ausgeht, daß der äußere Unfallhergang nur mit der Blindheit des Klägers zu erklären ist, könnte der Kläger allenfalls dann nicht entschädigt werden, wenn ihm entgegengehalten werden könnte, er sei einer selbstgeschaffenen Gefahr erlegen.

Dieser besonders im Unfallversicherungsrecht erörterte Einwand (vgl Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 9. Aufl, 48. Nachtrag, Stand: August 1977 S 484 f und g) ist ebenso im Versorgungsrecht zu beachten (vgl BSGE 1, 72, 76; vgl auch zum Soldatenversorgungsrecht BSG SozR 3200 § 81 Nr 7 und 8). Dieser Einwand setzt voraus, daß der Verunglückte in "so hohem Maße vernunftswidrig" gehandelt hat, daß die dadurch geschaffene Gefahr als die rechtlich allein wesentliche Ursache zu werten ist (vgl BSGE 43, 15, 18 mw Hinweisen). Das ist - konkret gesagt - dann der Fall, wenn der Handelnde "mit hoher Wahrscheinlichkeit" (BSG SozR 2200 § 539 Nr 21 S 53 unten oder "höchstwahrscheinlich" (BSG SozR 3200 § 81 Nr 7 S 31) damit rechnen mußte, daß es zu einem Unglück kommen werde.

Das kann hier nicht ohne weitere Ermittlungen entschieden werden. Ob das Verhalten einer durch das Unfallversicherungs- oder das Kriegsopferrecht gesicherten Person vernunftswidrig und mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit zu einem Unglück führen konnte, hängt von dem Verhalten im einzelnen und auch davon ab, welche Fähigkeiten diese Person hat, objektiv gefährliche Situationen zu meistern (vgl BSG Urteil vom 27. Januar 1976 - 8 RU 64/75 - SozR 2200 § 1509a Nr 1 - der hier interessierende Abschnitt ist jedoch nicht abgedruckt -). Die Gefährlichkeit des Verhaltens des Klägers ist unterschiedlich zu beurteilen, je nach dem wie der Kläger, etwa durch Stock, Armbinde oder Handbewegungen, kenntlich gemacht hat, daß er sehbehindert ist. Von besonderer Bedeutung für die Beurteilung der Gefährlichkeit ist auch, wie lange er in Hamburg lebte und Großstadtverkehr kannte, ob er am Mobilitätstraining für Blinde erfolgreich teilgenommen hatte, wie gut er den Weg kannte, ob er ihn schon öfter - allein oder in Begleitung - und zu welcher Tageszeit gegangen ist, ob er übermüdet oder stark abgespannt oder etwa erregt war, als er sich auf den Weg machte.

Bei der Beurteilung der Vernunftswidrigkeit und der Gefährlichkeit des Verhaltens von Beschädigten ist zu berücksichtigen, daß allgemeine Maßstäbe dafür fehlen, was sich ein Beschädigter und insbesondere ein Blinder im Straßenverkehr schlechthin zutrauen darf. Da jeweils nicht nur die eigene Sicherheit, sondern auch die Sicherheit anderer Verkehrsteilnehmer auf dem Spiele stehen, sind dem Beschädigten durchaus Einschränkungen seiner Bewegungsfreiheit zuzumuten. Andererseits muß dem Beschädigten im Interesse der Rehabilitation, die im Vordergrund jeder Hilfe für Beschädigte steht, zugebilligt werden, daß er bis an die Grenze seiner Fähigkeit geht, ohne fremde Hilfe auszukommen.

Die Kostenentscheidung bleibt dem den Rechtsstreit abschließenden Urteil vorbehalten.

 

Fundstellen

Haufe-Index 1653460

BSGE, 187

Breith. 1980, 218

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