Leitsatz (amtlich)

Die 1945 von Polen übernommenen deutschen Ostgebiete sind auch durch den Vtr Polen vom 1970-12-07 (BGBl 2 1972, 361, 362, 651) nicht "Ausland" iS der RVO §§ 1315 bis 1323a geworden; Renten sind dorthin nicht auszuzahlen.

 

Normenkette

RVO § 1317 Fassung: 1960-02-25, § 1318 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1960-02-25, § 1321 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1960-02-25, § 1315 Fassung: 1960-02-25, § 1316 Fassung: 1960-02-25, § 1319 Fassung: 1960-02-25, § 1320 Fassung: 1960-02-25, § 1322 Fassung: 1960-02-25, § 1323 Fassung: 1960-02-25, § 1323a Fassung: 1960-02-25; BezVtr POL Fassung: 1970-12-07

 

Tenor

Das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 6. Dezember 1973 wird insoweit aufgehoben, als es die Beklagte zur Auszahlung des Altersruhegeldes und zur Erteilung eines Bescheides nach § 1321 Reichsversicherungsordnung sowie zur Kostenerstattung verurteilt hat.

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 20. Januar 1971 wird auch insoweit zurückgewiesen.

Kosten des Rechtsstreits sind nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

Der 1899 geborene Kläger wohnt in G, früher L, Kreis R in Oberschlesien. Er begehrt die Auszahlung des Altersruhegeldes an seinen Wohnort.

Das Sozialgericht (SG) hat auf die Klage des Klägers gegen den Rentenablehnungsbescheid aus dem Jahre 1967 die Beklagte verpflichtet, das Altersruhegeld festzusetzen (Urteil vom 20. August 1971). Es hat ausgeführt, die Klage habe Erfolg, soweit der Kläger die Festsetzung des Altersruhegeldes begehre; sie habe keinen Erfolg, soweit er die Auszahlung der Rente verlange. Die Beklagte bewilligte darauf mit Bescheid vom 3. Dezember 1971 das Altersruhegeld vom 1. September 1964 an. Sie erklärte in dem Bescheid, daß die Rente gemäß § 1317 der Reichsversicherungsordnung (RVO) ruhe, solange sich der Kläger außerhalb des Geltungsbereiches dieses Gesetzes aufhalte.

Das Landessozialgericht (LSG) hat die Beklagte verpflichtet, das Altersruhegeld auszuzahlen, soweit es auf im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland zurückgelegten Versicherungsjahren im Sinne von § 1318 RVO beruhe; hinsichtlich des Teils des Altersruhegeldes, dessen Zahlung nur gemäß § 1321 RVO möglich sei, habe die Beklagte dem Kläger einen neuen Bescheid zu erteilen; die weitergehende Klage wurde abgewiesen; die Revision wurde zugelassen (Urteil vom 6. Dezember 1973).

Das LSG hat einen Anspruch des Klägers auf Auszahlung der Rente für die Zeit bis zum Inkrafttreten des Vertrages zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen über die Grundlagen der Normalisierung ihrer gegenseitigen Beziehungen vom 7. Dezember 1970 am 3. Juni 1972 (BGBl 1972 II 361, 362, 651 - Warschauer Vertrag) verneint. Für die Zeit seit dem 3. Juni 1972 hat es einen Anspruch des Klägers auf Auszahlung bestimmter Rententeile (§ 1318 RVO) und wegen der übrigen Rententeile auf erneute Überprüfung unter Ermessensgesichtspunkten (§ 1321 Abs. 1 RVO) bejaht. Es hat im wesentlichen sinngemäß ausgeführt, die Auffassung, die Rente ruhe, weil der Kläger - weiterhin deutscher Staatsangehöriger - auch nach Inkrafttreten des Warschauer Vertrages nicht als im Ausland wohnhaft anzusehen sei, stehe mit der durch den Warschauer Vertrag veränderten völkerrechtlichen Situation der ehemals deutschen Ostgebiete nicht mehr in Einklang. Die polnisch verwalteten deutschen Ostgebiete seien mit Inkrafttreten des Warschauer Vertrages Ausland im Sinne der §§ 1315 ff RVO geworden. Die Vereinbarungen in Art. I Abs. 1 und 2 des Vertrages über die Grenzlinien ließen auf der bilateralen Ebene des Vertrages keinen Raum mehr für eine völkerrechtlich relevante Unterscheidung des Gebietes östlich der Oder-Neiße-Linie in polnisch besetzte frühere deutsche Ostgebiete einerseits und polnisches Ausland andererseits. Etwas anderes werde auch nicht durch Art. IV des Vertrages nahegelegt. Das Ruhen der Rente nach §§ 1315 ff RVO sei nur solange zwingend gewesen, als der völkerrechtliche Status der Ostgebiete ungeklärt und sie weder Inland noch Ausland gewesen seien.

Die Beklagte hat Revision eingelegt und beantragt, das Urteil des LSG, soweit es die Auszahlung der Rente ab 3. Juni 1972 gemäß § 1318 Abs. 1 und § 1321 Abs. 1 RVO verlangt, aufzuheben und die auf Auszahlung der Rente gerichtete Klage in vollem Umfang abzuweisen.

Der Kläger ist nicht vertreten.

Beide Beteiligten sind mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist zulässig und begründet. Der Kläger ist nicht berechtigt, die Auszahlung seiner Rente für die Zeit seit dem 3. Juni 1972, dem Tage des Inkrafttretens des Warschauer Vertrages, zu verlangen (§ 1318 Abs. 1 Satz 1, § 1321 Abs. 1 RVO). Der Auffassung des LSG, der Aufenthalt des Klägers im früheren Oberschlesien sei seit dem 3. Juni 1972 ein Aufenthalt "im Ausland" im Sinne des § 1318 Abs. 1 RVO, ist nicht zu folgen.

Nach § 1317 RVO ruht die Rente eines Deutschen, solange er sich "außerhalb des Geltungsbereiches dieses Gesetzes" aufhält. Nach § 1318 Abs. 1 RVO wird die Rente, soweit sie auf im Geltungsbereich dieses Gesetzes zurückgelegte Versicherungsjahre entfällt, auch für Zeiten des Aufenthalts im "Ausland" gezahlt. Nach § 1321 Abs. 1 RVO kann Deutschen, die sich gewöhnlich im "Gebiet eines auswärtigen Staates" aufhalten, in dem die Bundesrepublik eine amtliche Vertretung hat, die Rente insoweit gezahlt werden, als sie nicht auf nach dem Fremdrentengesetz (FRG) gleichgestellte Zeiten usw. entfällt. Die Voraussetzungen dieser Vorschriften sind hier nicht erfüllt.

Die RVO beschränkt sich in ihren Vorschriften über die "Zahlung von Leistungen" (Überschrift des Unterabschnittes D des 2. Abschnittes im 4. Buch) aus der gesetzlichen Rentenversicherung nach §§ 1315 bis 1323 aRVO nicht auf die Einteilung von Territorien in "Inland" und "Ausland". Sie hat vielmehr eine Dreiteilung vorgenommen:

"Geltungsbereich dieses Gesetzes", d. h. der RVO; das ist das Gebiet der Bunderepublik Deutschland einschließlich West-Berlin;

"Ausland";

das sind die Gebiete auswärtiger Staaten;

"Gebiete außerhalb des Geltungsbereiches dieses Gesetzes", d. h. der RVO;

das sind die Gebiete, die Teile des Deutschen Reichs in den Grenzen vom 31. Dezember 1937 waren, aber nicht zur Bundesrepublik Deutschland und West-Berlin gehören.

Diese Dreiteilung beruht auf der geschichtlichen Entwicklung Deutschlands nach dem Zusammenbruch 1945. Die Zerreißung Deutschlands in mehrere Teile unter der Verwaltung unterschiedlicher Besatzungsmächte mit unterschiedlichen neuen Anordnungen und Rechtsvorschriften führte dazu, daß die Leistungen aus der Rentenversicherung auf solche Personen beschränkt wurden, die in dem jeweiligen Gebiet ihren Wohnsitz hatten. Das Bundessozialgericht (BSG) hat aus dieser Entwicklung gefolgert, daß der Wohnsitzgrundsatz der tragende Grundsatz für die "Entwirrung der sozialrechtlichen Beziehungen" Versicherter in den verschiedenen Teilen des ehemaligen Deutschen Reiches nach dem Stand vom 31. Dezember 1937 sein muß. Jeder Versicherte muß "als schicksalsmäßig verhaftet mit der Entwicklung des Sozialversicherungsrechts an seinem Wohnsitz bei Beginn der Aufsplitterung" angesehen werden (vgl. BSG 3, 286, 291 f; SozR Nr. 7 zu § 1317 RVO). Es hat damit im interlokalen Rentenversicherungsrecht - anders als im internationalen Sozialversicherungsrecht (vgl. BSG 33, 280, 282, 283) - den strengen Wohnsitzgrundsatz angewandt. Infolgedessen werden die Gebiete des früheren Deutschen Reichs, die 1945 unter fremde Verwaltung kamen und nicht zur Bundesrepublik Deutschland und West-Berlin gehören, in der RVO nicht vom Begriff "Ausland" erfaßt, sondern als Gebiete "außerhalb des Geltungsbereiches" der RVO bezeichnet. Danach ist das Gebiet, in dem der Kläger wohnt, nicht Ausland, sondern gehört zu der Kategorie der Gebiete "außerhalb des Geltungsbereiches" der RVO.

Hieran hat sich durch den Warschauer Vertrag nichts geändert. Das Gebiet, in dem der Kläger wohnt, ist durch den Warschauer Vertrag nicht "Ausland" geworden.

Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat in dem Beschluß vom 7. Juli 1975 - 1 BvR 274, 209/72, 195, 194, 184/73 und 247/72 (BVerfGE 40, 141, 164, 170) ausgeführt, bestimmend für die Auslegung des Vertrages sei der politisch-geschichtliche Hintergrund und sein Ziel, politische Beziehungen des Bundes zu regeln, indem er einem neuen außenpolitischen Konzept die Bahn bereite und auf dem Gebiet der Ostpolitik eine auf Dauer angelegte, der Entspannung und Friedenssicherung dienende Politik einleiten solle. Der Warschauer Vertrag befaßt sich in Art. I mit "Grenzregelungen" (BVerfGE aaO S. 171). Für das Verständnis der Vereinbarungen in Art. I, worüber der Senat für die gesetzliche Rentenversicherung zu entscheiden hat, ist Art. IV des Vertrages zu berücksichtigen. Danach berührt der Vertrag nicht die von den Parteien früher geschlossenen oder sie betreffenden zweiseitigen oder mehrseitigen internationalen Vereinbarungen. Die Drei Mächte haben in dem Notenwechsel vom 19. November 1970 zum Warschauer Vertrag die Auffassung geteilt, "daß der Vertrag die Rechte und Verantwortlichkeiten der Vier Mächte, wie sie in den bekannten Verträgen und Vereinbarungen ihren Niederschlag gefunden haben, nicht berührt und nicht berühren kann" (BGBl 1972 II 364 bis 368). Zu diesen früheren Vereinbarungen gehört der Deutschlandvertrag vom 26. Mai 1952. In Art. 2 des Deutschlandvertrages haben sich die Drei Mächte "die bisher von ihnen ausgeübten oder innegehabten Rechte und Verantwortlichkeiten in bezug auf Berlin und auf Deutschland als Ganzes einschließlich der Wiedervereinigung Deutschlands und einer friedensvertraglichen Regelung" vorbehalten. In Art. 7 des Deutschlandvertrages haben die Unterzeichnerstaaten erklärt, sie seien "darüber einig, daß ein wesentliches Ziel ihrer gemeinsamen Politik eine zwischen Deutschland und seinen ehemaligen Gegnern frei vereinbarte friedensvertragliche Regelung für ganz Deutschland ist, welche die Grundlage für einen dauerhaften Frieden bilden soll", und "daß die endgültige Festlegung der Grenzen Deutschlands bis zu dieser Regelung aufgeschoben werden muß". Diese früheren Vereinbarungen sind durch Art. IV des Warschauer Vertrages ausdrücklich in den Vertrag hineingenommen worden. Entsprechend dieser vertraglichen Beschränkung konnte die Bundesrepublik Deutschland über den staats- und völkerrechtlichen Status der von Polen übernommenen deutschen Ostgebiete nicht verfügen. Ihr Vertragspartner konnte sie nicht für befugt halten, Verfügungen zu treffen, die eine friedensvertragliche Regelung vorwegnehmen (vgl. BVerfGE aaO S. 141, 171 bis 175). Diese Sach- und Rechtslage schließt es aus, Art. I des Warschauer Vertrages so zu verstehen, daß die deutschen Ostgebiete "Ausland" geworden seien.

Der staats- und völkerrechtlichen Lage entspricht die rentenversicherungsrechtliche Lage: Die von Polen übernommenen deutschen Ostgebiete sind durch Art. I des Warschauer Vertrages nicht Ausland im Sinne der §§ 1315 ff RVO mit der Wirkung geworden, daß die Rentenversicherungsträger durch den Warschauer Vertrag verpflichtet worden wären, Renten an die in diesen Gebieten wohnenden Versicherten auszuzahlen. Die durch die Zerreißung des Deutschen Reichs notwendig gewordene "Entwirrung" der rentenversicherungsrechtlichen Beziehungen von Versicherten mit Wohnsitz in jenen Ostgebieten ist durch den Warschauer Vertrag noch nicht bewirkt worden. Der Vertrag enthält nichts, was unmittelbar die gesetzliche Rentenversicherung betrifft. Wie das BVerfG dargelegt hat, folgt aus dem Zweck des Vertrages, das "politische Klima" für weitere Schritte zu schaffen, daß ein übereinstimmender Wille der Vertragspartner, konkrete rechtliche Handlungs- und Verhaltenspflichten - hier auf dem Gebiet der gesetzlichen Rentenversicherung - zu begründen, nur angenommen werden darf, wenn und soweit dies der Vertragstext unzweideutig zum Ausdruck bringt (BVerfG aaO S. 141, 164). Der Warschauer Vertrag hat aber durch Art. III nur die Grundlage für das Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen über Renten- und Unfallversicherung vom 9. Oktober 1975 (BGBl 1976 II 393, 396) geschaffen.

Im übrigen würden allein mit der Auffassung, jene Ostgebiete wären durch Art. I des Warschauer Vertrages "Ausland" geworden oder seien "wie Ausland" zu behandeln, die rentenversicherungsrechtlichen Verhältnisse der in diesen Gebieten wohnenden Versicherten noch nicht "entwirrt"; denn dazu gehört nicht nur die Frage, ob Renten der gesetzlichen Rentenversicherung an Versicherte in diesen Gebieten auszuzahlen sind, sondern wesentlich u. a. auch die Regelung, welche Versicherungszeiten von welchen Versicherungsträgern jeweils anzurechnen sind. Diese Fragen sind erst durch das Abkommen vom 9. Oktober 1975, in Kraft getreten am 1. Mai 1976 (BGBl 1976 II 463), zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Polen erschöpfend geregelt worden.

Wenn hiermit das Wohngebiet des Klägers nicht als "Gebiet eines auswärtigen Staates" nach § 1321 Abs. 1 RVO behandelt werden kann, ist die Beklagte nicht verpflichtet, nach Ermessensgesichtspunkten über eine Auszahlung der Rente neu zu entscheiden. Ihre Revision ist begründet und das Urteil des LSG insoweit aufzuheben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

BSGE, 249

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